Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Sonne leuchtet. Dieselbe Sonne hat Tausende hier sterben sehen, und derselbe Fluß, den Du hier vor uns erblickst, hat Hunderte von Leichen mit sich fortgerissen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens, welche dort hinter den Bergen von Karitha und Tura Schina wohnten; frage die Scheiks der christlichen Fürsten, welche bei den Statthaltern des Sultans waren und dies Alles ruhig geschehen ließen! Hat nicht jeder christliche Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Christen zu schützen, sie mögen sich befinden, wo es nur immer sei? Ich habe heut um Mitternacht die Christen dieses Thales vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben diese Emire weniger Macht als ich? Einst war ich Meleka; jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich habe heut um Mitternacht das Christenthum verkündet, aber nicht das Christenthum des Wortes, über dessen Sinn die Abgefallenen streiten, sondern das Christenthum der That, da Niemand zweifeln kann. Züchtigt die Bösen, und sie werden es Euch später danken, während die Guten, die sich nach Erlösung sehnen, Euer Nahen mit Freudigkeit begrüßen werden. Sendet nicht Boten, welche wie einzelne Funken im Meere verlöschen, sondern sendet Männer, vor denen sich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die Berge jauchzen und die Thäler jubiliren; das Land wird Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von einem Hirten und einer Heerde sich erfüllen. Hat nicht dieser eine Hirt bereits seinen Statthalter auf Erden? Warum wendet Ihr selbst Euch von ihm weg? Kehrt zu ihm zurück; dann seid Ihr einig, und die Macht dessen, der Euch sendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds machen, in welchem Milch und Honig fließt!«
Sie hatte während ihrer Rede sich erhoben. Ihre vorher gebeugte Gestalt stand aufrecht vor mir; in ihren erstorbenen Zügen zeigte sich plötzliches Leben; ihre tief eingesunkenen Augen leuchteten vor Begeisterung, und ihre Stimme erscholl laut und voll, als ob sie zu Tausenden rede. Es war ein Augenblick, den ich nie vergessen werde. Jetzt hielt sie erschöpft inne und setzte sich wieder nieder. Diese Frau mußte viel gesehen und gehört, viel gefühlt und gedacht, vielleicht auch gar Manches gelesen haben. Was sollte ich ihr antworten?
»Marah Durimeh, tadelst Du auch mich?« frug ich sie.
»Dich? Warum meinst Du das?«
»Weil ich auch ein Bote bin.«
»Du?! Wer hat Dich gesandt?«
»Niemand. Ich komme selbst.«
»Um zu lehren?«
»Nein, und doch auch ja.«
»Ich verstehe Dich nicht, mein Sohn. Erkläre es!«
»Du selbst hast gesagt, daß Du Boten der That wünschest, aber der That, die nicht im Meere verlischt. Gott teilt die Gaben nach seiner Weisheit aus. Dem Einen gibt er die erobernde Rede und dem Andern befiehlt er, zu wirken, bevor die Zeit kommt, da er nicht mehr wirken kann. Mir ist die Gabe der Rede versagt, aber ich muß wuchern mit dem Pfunde, welches Gott mir verliehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer ruhen; ich muß immer wieder hinaus, um zu lehren und zu predigen, nicht durch das Wort, sondern dadurch, daß ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin. Ich war in Ländern und bei Völkern, deren Namen Du nicht kennst; ich bin eingekehrt bei weiß, gelb, braun und schwarz gefärbten Menschen; ich war der Gast von Christen, Juden, Moslemin und Heiden; bei ihnen Allen habe ich Liebe und Barmherzigkeit gesäet. Ich ging wieder fort und war reich belohnt, wenn es hinter mir erklang: ›Dieser Fremdling kannte keine Furcht; er konnte und wußte mehr als wir und war doch unser Bruder; er ehrte unsern Gott und liebte uns; wir werden ihn nie vergessen, denn er war ein guter Mensch, ein wackerer Gefährte; er war – – ein Christ!‹ Auf diese Weise verkündige ich meinen Glauben. Und sollte ich auch nur einen einzigen Menschen finden, der diesen Glauben achten und vielleicht gar dann lieben lernt, so ist mein Tagewerk nicht umsonst gethan, und ich will irgendwo auf dieser Erde mich von meiner Wanderung gern zur Ruhe legen.«
Es entstand eine lange, lange Pause. Wir Beide blickten wortlos zur Erde nieder; dann ergriff sie langsam mit beiden Händen meine Rechte.
»Herr,« sagte sie, »ich liebe Dich!«
Dabei sahen mich die alten Augen so mütterlich innig an, daß ich’s nie vergessen werde!
»Mein Sohn,« sagte sie, »wenn Du dieses Thal verlassen hast, so wird mein Auge Dich nie wiedersehen, aber Marah Durimeh wird für Dich beten und Dich segnen,
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