Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
von Männern, Frauen und Kindern in jedem Gotteshause der Christen gesungen. Und wer ein frommer Vater ist, singt mit den Seinen auch daheim solche Lieder.«
»Herr, es muß schön bei Euch sein! Ihr gewährt Freiheit Eueren Lieben. Euere Priester, welche Euch erlauben, solche Lieder mit den Euerigen zu singen, müssen besser sein und freundlicher als die unserigen, welche behaupten, daß Allah dem Weibe keine Seele gegeben habe. Allah strafe sie und den Propheten für diese Lüge! Dir aber, Effendi, danke ich!«
Sie ging hinaus, und ich blickte ihr schweigend nach. Ja, der Orient schmachtet nach Erlösung aus schweren, tausendjährigen Banden. Wann wird sie ihm werden? –
Ich schloß das Instrument; ich konnte nicht spielen, denn ein jeder Ton, welcher zu ihr drang, mußte den Eindruck des frommen Liedes verwischen, den sie sich bewahren wollte. Ich ging hinunter und ließ satteln, um mit Halef einige kleine Einkäufe zu machen.
Da wir nichts zu versäumen hatten, so beeilten wir uns nicht, machten einen Ritt der Wißbegierde durch die Gassen und drangen sogar in das enge, schmutzige Judenviertel ein. Da gab es genug Trümmer und Elend. Zwischen den Resten ehemaliger Prachtbauten klebten halbverfallene Butiken; die Männer gingen in abgeschabten, aus den Nähten reißenden Kaftanen, und die Kinder in Fetzen und Lumpen; die Frauen aber trugen über ihren verschossenen Prachtgewändern all ihren ächten oder unächten Schmuck zur Schau. Ich glaube, grad so müssen sich die Frauen und Töchter der Juden auch damals getragen haben, als der Prophet ihnen verkündigte: »Der Herr wird den Scheitel der Töchter Zion’s kahl machen und ihnen ihr Geschmeide wegnehmen. In dieser Zeit wird der Herr den Schmuck an den kostbaren Schuhen fortnehmen, die Heftel und die Spangen, die Ketten und Armbänder, den Flitter, die Hauben, das Gebräme, die Schnuren, Bisamäpfel und Ohrenspangen, die Ringe und Haarbänder, die Feierkleider, die Mäntel, die Schleier, die Beutel, die Spiegel, die Koller, die Borten und die Kittel.«
Als wir auf dem Rückwege an dem Bazar der Juwelenhändler und Goldarbeiter vorbeiritten, wollte ich bei Schafei absteigen, fand aber zu meinem Erstaunen das Gewölbe verschlossen. Zwei Khawassen hielten Wache dabei. Ich erkundigte mich bei ihnen nach dem Grunde, erhielt aber eine so grobe Antwort, daß ich schleunigst fortritt. Zu Hause angekommen, fand ich sämmtliche Bewohner in der höchsten Aufregung. Schon unter dem Thore kam mir Schafei entgegen. Er wollte das Haus in größter Eile verlassen, hielt aber an, als er mich erblickte.
»Effendi, weißt Du es schon?« rief er mich an.
»Was?«
»Daß wir bestohlen sind, entsetzlich bestohlen und betrogen!«
»Kein Wort!«
»So laß es Dir von dem Vater erzählen! Ich muß fort.«
»Wohin?«
»Allah ‘l Allah, ich weiß es noch nicht.«
Er wollte an mir vorüber, ich aber streckte die Hand nach ihm aus und hielt ihn fest. Das Ereigniß hatte ihm die grad jetzt so nöthige Ruhe des Urtheils genommen, wie mir schien; einem unvorsichtigen Handeln mußte vorgebeugt werden.
»Bleib jetzt noch,« bat ich.
»Laß mich! Ich muß ihm nach!«
»Wem? Dem Diebe? Wer ist es?«
»Frage den Vater!«
Er wollte sich mir entwinden, ich aber rutschte von meinem Esel herunter, nahm den Arm des Widerstrebenden kräftig unter den meinigen und so zwang ich ihn, mit mir zu gehen.
Er fügte sich meinem gewaltsamen Einschreiten und führte mich die Treppe empor in die Wohnung seines Vaters. Dieser stand, zum Ausgehen gerüstet, mitten in dem Raume und war beschäftigt, sich ein paar riesige Pistolen zu laden. Als er seinen Sohn erblickte, fuhr er zornig auf:
»Was willst Du noch? Man darf keine Zeit verlieren, keine Minute! Gehe, eile! Auch ich werde gehen und diesen Menschen erschießen, wo ich ihn nur immer finde!«
Um ihn standen die anderen Glieder seiner Familie, mit ihren Thränen und Klagen die Situation nur noch verschlimmernd. Ich hatte Mühe, sie zu beruhigen und Jacub dazu zu bringen, mir die Sache zu erklären. Afrak Ben Hulam, der kranke Gehülfe und Vetter aus Adrianopel, hatte, nachdem wir fortgeritten waren, das Haus verlassen und war zu Schafei in den Laden getreten mit der Botschaft, daß dieser augenblicklich eines großen Kaufes wegen zu seinem Vater kommen solle, der sich in dem großen Han Assad Pascha befinde. Schafei war auch wirklich gegangen, hatte aber nach langem Suchen und nach längerem Warten seinen Vater nicht getroffen. Darauf war
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