Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Verhältnisse und ihr Schicksal zu entscheiden hat. Und doch dürfen wir der Mutter die dazu nöthige Befähigung keineswegs durchgängig absprechen.
Wie oft kommt es vor, daß eine Familie in Unglück, Armuth und Elend versinkt, weil der Vater seine Pflichten vergißt und der Gewalt der Leidenschaften und des Lasters die Herrschaft über sich einräumt. Er vertrinkt, verspielt, vergeudet und verschlemmt nicht nur sein Eigenthum, sondern auch das der Seinen, ruinirt seinen wirthschaftlichen Wohlstand, sinkt tiefer und immer tiefer und fährt als Bettler und moralischer Lump in die Grube. Jetzt aber rafft sich das Weib empor. Längst zwar schon ist die Noth wie ein gewappneter Mann an sie herangetreten, aber jede Mühe, auch die kleinste, wäre verloren gewesen; denn der Verstorbene hätte jede Anstrengung zum Besseren erfolglos gemacht. Nun, da er das nicht mehr kann, nimmt die Frau die Leitung der Wirthschaft und die Sorge um den Unterhalt der Familie in die Hände. Sie arbeitet im Schweiße ihres Angesichtes und – siehe da, es gelingt, gelingt über Erwarten, und in verhältnißmäßig kurzer Zeit hat sie den Beweis geliefert, daß die Löwin des Löwen nicht bedarf, wenn es sich um die Rettung ihrer Jungen handelt. Das ist der Heroismus einer Mutter, und Tausende solcher Heldenthaten werden im Stillen ausgeführt, ohne daß auch nur der nächste Nachbar ihnen eine mehr als gewöhnliche Theilnahme schenkt.
Um die Größe und Aufopferungsfähigkeit der Mutterliebe zu schildern, hat man von Schlangenbissen erzählt, deren Gift die Mutter ausgesaugt hat. Wir sind weit entfernt, grad’ dieses Beispiel als eclatant gelten zu lassen, da dieses Aussaugen meistentheils ungefährlich ist, vielmehr offenbart sich die Mutterliebe in ihrer größten Größe grad’ bei solchen Dingen und Vorkommnissen, welche uns das tägliche Leben in unendlicher Zahl zur Anschauung bringt.
Wenn der Vater vorzugsweise durch die Thätigkeit seines Verstandes auf das Kind einzuwirken sucht, so herrscht auch hier bei dem Weibe das Gefühl vor. Die Mutter ist empfangend und gebährend auch bei der Erziehung. Sie ergreift den Stoff, welchen der Vater dem jungen Leben entgegengebracht hat, erwärmt ihn mit dem Pulsschlage ihres Herzens, ruft ihn mit der milden Freundlichkeit ihres Auges zum Keimen und entwickelt jede einzelne Regung des Kindes, bis dieselbe als geistige Geburt des kleinen Erdenbürgers nach außen tritt. Wenige, sehr wenige Väter werden hierzu befähigt sein!
Es ließen sich viele Bücher füllen über die Thätigkeit, Opferung, Schonung und Ausdauer einer Mutter, und wahrlich, sie hat nicht etwa das kleinste Anrecht auf die Liebe und Dankbarkeit des Kindes, und wenn die Bibel sagt: »Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser,« so setzt sie mit voller Gerechtigkeit sofort hinzu: »aber der Mutter Fluch reißet sie nieder.«
Mag das Aeußere eines Weibes noch so häßlich, noch abstoßend sein, es wird verklärt und verschönt von der Sorge und Liebe für ihre Kinder, und wahr ist es, daß es keinen heiligeren Augenblick giebt, als »wenn eine Mutter betet für ihr Kind.« Welche Liebe wäre wohl mit der Liebe einer Mutter zu vergleichen, die tausendmal verzeiht und immer wieder vertraut! Sie gleicht dem Quelle, welcher unerschöpflich der Erde entquillt und immerfort fließt, ob man auch noch so viel von ihm schöpfe:
»Da ruht er von des Lebens Wegen
In ihren Armen lind und weich;
O, Mutterliebe, Muttersegen,
Wie bist du unerschöpflich reich!«
Bei der Größe dieser Liebe will uns jenes Beispiel fast unwahr erscheinen, nach welchem die Mutter der sieben Brüder einen ihrer Söhne nach dem andern hinschlachten sehen konnte um eines religiösen Gebotes willen (2. Macc. 7). Und doch weiß sich auch eine Mutter über den Verlust ihres größten, köstlichsten Schatzes zu trösten:
»Vater, wenn die Mutter fragt:
›Wo ist denn mein Liebling hin?‹
Wenn sie weinend um mich klagt,
Sag’, daß ich im Himmel bin!«
Von allen Arten der Liebe ist die Mutterliebe der Liebe Gottes am ähnlichsten, am nächsten verwandt, sie hat das meiste Himmlische an sich, und der Busen der Mutter ist der beste und sicherste Ort der Erde, an welches sich das schwache, müde und gehetzte Kind des Staubes zu flüchten vermag. Und wie der Säugling schweigt, wenn er sich auf dem Arme der Gebärerin fühlt, so zieht es auch den Erwachsenen immer wieder mit Macht an die liebe, traute Stätte zurück, an welcher das
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