Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Mütterchen, das ergraute, verweilt, und ist er zurückgekehrt in ihre Arme, so wird sein klagendes Herz still und es schweigt das Leid, welches in seinem Innern nagte:
»Mutter, o sing’ mich zur Ruh’!
Sing’ von den Tagen der Wonnen,
Sing’ ob dem Traum, der zerronnen,
Tröstende Lieder mir zu!
Decke, o decke mich zu!
Träumend schon wiegt sich die Ranke,
Pilger schlummern und Kranke –
Mutter, o sing’ mich zur Ruh’!
Heim in dein Nestchen mich thu’!
Bin um die Jugend betrogen,
Liebe, sie hat mir gelogen –
Mutter, o sing’ mich zur Ruh’!«
»Kann auch eine Mutter ihres Kindleins vergessen?« fragt die heilige Schrift, und es ist auch leider wahr, daß diese Frage nicht allemal mit »nein« zu beantworten ist. Aber selbst dann, wenn sie es vergißt, wenn sie sich aller ihrer Pflicht entäußert und ihr Herz der süßesten und natürlichsten Liebe, der Liebe zu ihrem eigenen Fleische und Blute verschließt, eins hat sie doch gethan, was ihr das Kind nimmer vergessen kann und darf: sie hat es unter ihrem Herzen getragen und ihm mit Schmerzen und unter Todesangst das Dasein gegeben.
»Und hätte selbst das Mutterherz
Für dich gesorget noch so wenig,
Das Wenige selbst vergiß du nie
Und wärest du der reichste König.
Die größten Opfer sind gering
Für das, was sie für dich gegeben;
Und hätte sie vergessen dein,
So schenkte sie dir doch das Leben!«
Glücklicherweise sind die Fälle selten, in welchen ein Weib vergißt, daß sie Mutter ist; vielmehr kommt die Macht des Zusammenhanges zwischen Mutter und Kind all’ überall zur Geltung, und wie vor fast zweitausend Jahren Simeon verkündigte: »Und es wird ein Schwert durch deine Seele dringen,« so ist auch heut’ noch die mütterliche Sympathie eine machtvolle und wird Thränen der Freude und des Schmerzes für die Kinder haben, so lange die Erde der Aufenthalt von Menschen bleibt.
Nirgends zeigt sich die Wahrheit: »Wenn man etwas verloren hat, erkennt man seinen Werth so in ihrer ganzen Schwere, als bei dem Verluste der Eltern, und ganz besonders ist es der Tod der Mutter, welcher einen tiefen, unheilbaren Riß in das Leben und Glück der Familie bringt; darum sollte ein Jeder die ernste Mahnung bedenken:
›Wenn du noch eine Mutter hast,
So danke Gott und sei zufrieden;
Nicht Jedem auf der Erde Rund
Ist dieses hohe Glück beschieden.
Wenn du noch eine Mutter hast,
So sollst du sie mit Liebe pflegen,
Daß sie dereinst ihr müdes Haupt
In Frieden kann zur Ruhe legen.
Denn was du bist, bist du durch sie;
Sie ist dein Sein, sie ist dein Werden,
Sie ist dein allerbestes Gut,
Sie ist dein größter Schatz auf Erden.
Des Vaters Wort ist ernst und streng,
Die gute Mutter mildert’s wieder.
Des Vaters Segen baut das Haus,
Der Fluch der Mutter reißt es nieder.‹«
In der Mutter zeigt sich das Weib im vollsten Sinne als ein Abbild der göttlichen Liebe, trägt mit unendlicher Geduld und Langmuth alle Mühen und Entbehrungen und geht vollständig auf in der Hingebung an das Wesen, dessen Leben und Bestehen ihrem Herzblute entstammt. Ein neuerer Schriftsteller sagt: »Schön kann nur das sein, was auf dem Gipfelpunkte seiner Bestimmung steht, und aus diesem Grunde ist ein Weib dann am schönsten, wenn sie sich im Zustande der Schwangerschaft befindet.« Es gehört wohl nicht nur eine hohe Pietät, sondern wohl auch eine außerordentlich glückliche Phantasie dazu, sich der Anschauung dieses Mannes beizugesellen. Arbeit und Schönheit stehen sich sehr oft feindlich gegenüber, und das Schwangersein ist eine der Hauptbestimmungen, eine der vorzüglichsten Arbeiten des Weibes, unter welcher die Schönheit des Aeußeren meist nicht unbeträchtlich zu leiden hat. In Wahrheit ist es auch mehr die Pietät als unsere Bewunderung, welche wir für eine Frau empfinden, die ein junges Leben unter ihrem Herzen trägt; denn die Schwangerschaft ist zunächst ein rein körperlicher Vorgang, eine angestrengte physische Arbeit, ausgeführt von einem Wesen, dessen weiche, zarte Constitution mehr zur Schonung fordert, als zu Aeußerungen physischer Kraft geeignet erscheint. Die Schwangerschaft ist kein normaler, ist ein leidender Zustand, welcher so oft zur Schonung und Nachsicht auffordert, und der Nachsicht würde die Schönheit nicht bedürfen, diese letztere fordert vielmehr zur Bewunderung auf, und wer würde wohl die angespannten Muskeln, die aufgeschwellten Formen und die erregte
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