Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
macht,
Doch nun im Alter kommt mir’s bei,
Daß noch was And’res nötig sei.
Im Holz, da liegt zwar auch ‘was drin,
Denn jeder Stoff hat seinen Sinn,
Jedoch der Sinn von diesem da,
Der reicht wohl nicht bis Golgatha.
Dort ist noch heut’ für alle Welt
Das Kreuz und Elend aufgestellt,
Und wer zu beiden kriechen muß,
Bekommt zuvor den Judaskuß.
D’rum ist’s das Richt’ge, was ich tu’:
Ich gebe eine Träne zu
Und denke dabei allezeit:
»Nun hat der Schmerz das Holz geweiht.«
Wenn ich es dann fast fertig hab’,
Denk’ ich an des Erlösers Grab,
Und daß er nach so kurzer Frist
Gleich wieder auferstanden ist.
Da kommt so recht aus Herzensgrund
Ein Juchezer mir in den Mund.
Den schneid’ ich, kaum zu seh’n, so fein,
Dem Herrgott mit dem Messer ein.
Und habe ich mein Werk vollbracht,
So fromm, wie ich es mir gedacht,
Dann freu’ ich mich als Mensch und Christ,
Daß es mir gut gelungen ist.
Und wer es gleichso bringen will,
Der greif’ zum Holz und warte still,
Bis sich die Träne bei ihm zeigt;
Der Juchezer, der kommt dann leicht!
Man fühlt es wohl heraus, daß dieser arme, alte, einfache Herrgottsschnitzer, den ich mir da gedacht habe, ein wirklicher Künstler ist. Er läßt den Stoff, das Holz, weinen, und er läßt es jauchzen. Er gibt ihm die Träne und den Juchezer, den Schmerz und die Freude. Das ist das Innere. Aber noch tiefer als dieser Schmerz und diese Freude liegt etwas anderes, nämlich das psychische Erleben des äußerlich Geschauten. Denn nur aus diesem seelischen Miterleben heraus entwickelt sich jenes unwägbare, ich möchte sagen, himmlische Fluidum, welches das Werk des Meisters durchgeistigt und verklärt und als sicherstes Zeichen gelten darf, daß er ein wirklicher, ein wahrer Künstler ist.
Indem er sein »Weihnacht« feiert, um es darzustellen, sucht er nach dem tiefsten Grunde des Erlösungsgedankens, also nach der »Schuld«. Und wo kann er diesen Grund denn wirklich und in Wahrheit finden, als nur in sich selbst, in seinem eigenen Innern? Er ringt mit seiner Anima, die ihm die Selbsterkenntnis verweigert, wie einst der erste Mensch mit der Schlange, die ihn durch die Lüge, er werde sein wie Gott, über sich selbst zu täuschen wußte. Er geht, wie Jesus, der Knabe, in den Tempel, um das Allerheiligste, was es gibt, auf sich einwirken zu lassen, und er wird dann in die Wüsten des sinnlichen Lebens geführt, um versucht zu werden. Er erlebt an seinem eigenen Genezareth, der tief in ihm verborgen liegt, die Wunder Christi an der Menschheitsseele, und hört in sich die ernsten Stimmen klingen, die von dem heiligen »Berg der Predigt« stammen. Er hat als Künstler sein Jerusalem, wo er ein trügerisches »Hosianna« findet, und dann gewißlich auch sein Golgatha, auf welchem die Erhöhung Qual und Tod bedeutet. Und hat man ihn gemartert, bis der Vorhang in ihm reißt, so kommt das Grab, das allbekannte Künstler- oder Dichtergrab, in welchem er verfaulen und verwesen soll, obgleich er als Mensch, als Individuum noch weiterlebt, noch nicht gestorben ist. Doch, wenn Gott will, gibt es ein Auferstehen und dann die Himmelfahrt, zum Himmel Gottes in der Brust des Menschen. Denn ich schreibe nicht als Theolog, als Priester, sondern als Laie – – nur als Mensch. Um an die einstige Seligkeit zu glauben, glaube ich an die schon jetzige, die jedem Menschen möglich ist, der nach Verklärung strebt.
Bei diesem In-Sich-Selbst-Erleben des christlichen Weihnachts- und Erlösergedankens ist es leider, leider nicht jedem Künstler gegeben, sich bis zur Auferstehung oder gar noch weiter durchzuringen. Der eine bleibt an dieser und der andere an jener Station stehen und kommt nicht weiter, weil seine Kraft erlahmt. Manche bleiben als Kinder im Tempel; sie kommen gar nicht in das Leben und in den Kampf hinaus. Manche überdauern die Versuchung nicht, der sie bald erliegen. Noch andere gehen am »Hosianna« zu grunde; sie wollen die Kunst beherrschen, anstatt ihr zu dienen, und werden totgelobt. Viele gelangen nicht an das Kreuz; sie weichen schon vor Pilatus und vor Kaiphas zurück. Und die am Kreuze sterben, wirklich sterben, indem sie sich vom Haß, vom Neid, von der Mißgunst überwinden lassen, denen ist der Ruf »Es ist vollbracht!« versagt, weil sie wohl begonnen, nicht aber vollendet haben. Das sind die »Tragischen«, welche glauben, innerlich nicht siegen zu können, ohne äußerlich besiegt zu werden. Die wenigen
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