Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Dingen, das ist leicht. An die Beantwortung dieser Lebens-oder Menschheitsfragen aber wagen sich nur wenige, denn sie ist schwer und fordert Selbstverleugnung. Wohin wir schauen und hören, erklingt der unbefriedigende Nonakkord in allen seinen Umkehrungen; wer aber hat die richtige Erkenntnis und den Mut, zur festen Tonica hinüber zu leiten, die uns den Frieden, die Ruhe und das Vertrauen bringt, zum Komponisten der großen göttlichen Symphonie?
Wer? – – – Wer? Und immer nur: Wer? Es liegt in dieser nie sterbenden Frage ein sich immer neu erzeugendes Verlangen nach führenden Persönlichkeiten, nach Uebermenschen, nach Propheten, nach – sagen wir es deutlicher – nach Heilanden, nach Erlösern. Die Schar dieser Wartenden gleicht dem Volke Israel, welches sich noch heut nach dem verheißenen Messias sehnt, obgleich er längst schon dagewesen ist. Und er ist nicht fortgegangen; er ist geblieben. Er wohnt in unserem Herzen; er waltet in unserm Innern; er wirkt aus diesem Innern heraus nach außen. Seit wir Weihnacht in uns feierten, brauchen wir nicht mehr zu fragen, wer, wer und wer? Der Erlöser ist geboren; laßt ihn nur wachsen, walten und wirken! Für die Forschenden durch die Wissenschaft, für die Glaubenden durch die Religion, für die Schauenden durch die Kunst! Wer ernstlich sucht und forscht, der wird finden. Wer wahrhauft glaubt, wird schauen. So sind also beide, die Wissenschaft und die Religion, verbunden durch die Kunst, in der sie Alles, was sie finden und was sie sehen, der Menschheit offenbaren. Und diese Offenbarung ist längst schon in die Wege geleitet. Es ist falsch, auf einen neuen Messias, auf ein neues, vollständig anderes Kunstideal zu warten. Denn das Alte bleibt, nur wird es neu. Es entwickelt sich, in uns und in euch, in mir und in dir, in Allen und in Jedem, der eine Seele und eine Spur von Geist besitzt. Keiner von allen den großen Künstlern, auf welche die Menschheit stolz ist, und zwar mit Recht, ist ein Heiland gewesen, und keiner von allen, die noch kommen werden, wird ein Heiland sein. Sie sind die Spitzen der Berge, in denen die Masse des irdischen Geistes empor zum Himmel ragt, doch der diese Geister beseelt, der Heiland, der Erlöser, der lebt in jedem Einzelnen von uns und treibt ihn vorwärts, zur Entwicklung. Darum lege Keiner die Hände in den Schoß, um sich auf den kommenden Messias zu verlassen, sondern ein Jeder wisse, daß er ein Athemzug dieses Kommenden ist, dem Körper ebenso wichtig wie jeder andere auch.
Das sei der Hauptgedanke, den uns der erste Tag des neuen Jahres bringt: Das Hoffen auf den Heiland sei vorüber. Er ist gekommen. Er wohnt in uns und wirkt in uns, um durch unsere Kraft und durch unsere Arbeit auch an Andern das zu werden, was er uns geworden ist, nämlich der Erlöser. Ein jeder Mensch, besonders aber ein jeder Künstler, hat Heilandsarbeit zu verrichten. Das haben zwar Viele erkannt, doch umso weniger waren, die es befolgten. In neuerer Zeit aber beginnt es sich in der Menschheitsseele zu regen. Die Gebiete der Kunst bevölkern sich. Zwar nicht alle, die da kommen, sind wirkliche Künstler zu nennen, aber daß sie überhaupt kommen, ist für uns ein erfreuliches Zeichen. Man hört die Rufe: Die Kunst für die Schule! Die Kunst für das Volk! Die Kunst für Jedermann! Das ist zwar allzu stürmisch, doch man lasse sie gewähren. Der Sturm mildert sich ganz von selbst zum ruhig belebenden Hauch. Weihnachtsstimmung und Weihnachtslicht will den Januar des Außenlebens beseligen und erleuchten. Die Erlösungssehnsucht geht durchs weite Volk. Indem es zu erkennen beginnt, was die Kunst ihm werden soll und werden kann, beginnt die Kunst sofort auch schon, es ihm zu werden. Und das, das ist der Grund für mich, wie ich oben sagte, zwar nicht befriedigt, aber dennoch hoffnungsreich zu sein.
Die Aufgabe des neuen Jahres ist zunächst, das erwachende Streben in die richtigen Wege zu leiten. Es ist auch hier, und vor allen Dingen hier, auf die Doppelaufgabe der Kunst zu verweisen: Gott zur Ehre und dem Menschen zum Frieden, zum Heile: Wer könnte es wohl auf sein Gewissen nehmen, das jugendlich heilige Erwachen der Gegenwart für jene »anderen Götter« anszubeuten, die doch nur Götzen sind, sie mögen heißen, wie sie wollen! Dieses Erwachen soll und muß vielmehr zum frommen Händefalten führen, ganz unwillkürlich und naturgemäß, wie in der seligen Kinderzeit, in der sich des Morgens das Auge nur öffnet, indem der Mund mit Gott dem
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