Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
einige notwendige Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der Verleger des »Venustempels«, wegen dieses Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses Venustempels hineingeheiratet zu haben!
Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und eine schöne häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nicht dafür. Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die man bald als Barbier, bald als Feldscheer, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man für das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für eine Leiche sei.
»Pollmers Tochter,« antwortete eine der beiden ersten Frauen.
»Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die gestorben?«
»An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann nur Unheil.«
»Was ist denn der Vater?«
»Der? Es hat ja keinen!«
»Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!«
Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind, der »Nickel«, der seine eigene Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem nichts. Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegängnis und an den unglückseligen »Nickel« dachte. Sobald ich später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens, herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas Wohlthuendes, noch etwas Fürchterliches an sich. Später begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen au der Hand führte. Das war der alte Pollmer mit seinem »Nickel«. Der Alte sah sehr ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar nichts an sich, was verriet,
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