Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
der auf dem Gebiete französischer Literatur nicht ganz ohne Ansprüche war und die »Henriade« in Übersetzung, den »Charles Douze« sogar im Original gelesen hatte. Tubal und Lewin, als Anverwandte des Hauses, machten die Honneurs in dem blauen Salon; einige der Herren hatten sich in das Billardzimmer zurückgezogen, unter ihnen Medewitz, dessen etwas fistulierende Stimme von Zeit zu Zeit an dem Tische der Gräfin hörbar wurde.
Es war dies derselbe auf vier runden Säulen ruhende Marmortisch, an dem bei Gelegenheit des Weihnachtsdiners der Kaffee genommen und schließlich in Veranlassung der alten Streitfrage »Roi Frédéric oder Prince Henri« eine ziemlich pikierte Debatte zwischen dem alten Vitzewitz und seiner Schwester, der Gräfin, geführt worden war. Auch heute sollte diesem Tisch eine geschwisterliche Fehde nicht fehlen.
Aber diese Fehde stand noch in weiter Ferne und war nur der Abschluß einer sich lang ausspinnenden Konversation, die zunächst nur das »vollendete Spiel« Mademoiselle Alcestes und erst nach Erschöpfung aller erdenklichen Verbindlichkeiten auch das Stück selbst zum Gegenstand hatte.
Die Gräfin, die mit vieler Geschicklichkeit diesen Übergang machte, wußte dabei wohl, was sie tat. Sie war die einzige, die die Tragödie gelesen, zugleich auch mit Hilfe einer vorgedruckten Biographie sich über die Lebensumstände Lemierres unterrichtet hatte, so daß sie sich in der angenehmen Lage sah, den in Sachen französischer Literatur mit ihr rivalisierenden Drosselstein in die zweite Stelle herabdrücken und überhaupt nach allen Seiten hin brillieren zu können. Am meisten vor Demoiselle Alceste selbst, die, als echtes Bühnenkind, sich mit dem Auswendiglernen ihrer Rolle begnügt und nicht die geringste Veranlassung gefühlt hatte, sich in Vor- und Nachwort oder gar in Anmerkungen und literar-historische Notizen zu vertiefen.
Es war ein anmutiges Lebensbild, das die Gräfin, indem sie Fragen von links und rechts her hervorzulocken wußte, nach und nach vor ihren Zuhörern entrollte, unter denen selbst Berndt, weil es menschlich schöne Züge waren, die zu ihm sprachen, ein ungeheucheltes Interesse zeigte. Lemierre, nach Poetenart, war immer ein halbes Kind geblieben. Anspruchslos, hatte sein Leben nur drei Dingen angehört: der Dichtung, der Entbehrung und der Pietät. Er war schon sechzig, als er zu Ruhm kam, aber auch dieser Ruhm ließ ihn ohne Mittel und Vermögen. Es waren kleine Summen, die die Aufführungen seiner Stücke ihm eintrugen; empfing er sie, so machte er sich auf den Weg nach Villiers le Bel, wo seine beinahe achtzigjährige Mutter lebte. Er teilte mit ihr, plauderte ihr seine Hoffnungen vor und kehrte dann, wie er den Hinweg zu Fuß gemacht hatte, so auch zu Fuß in die Hauptstadt und an seine Arbeit zurück.
Wie so viele Tragödienschreiber war er heiteren Gemütes, und seine Scherze, seine Anekdoten, seine Gelegenheitsverse belebten die Gesellschaft. So arm er war, so gütig war er; selbst neidlos, weckte er keinen Neid. Ein Nervenleiden, das ihn schon monatelang vor seinem Tode befallen hatte, schloß ihm die Sinne. So starb er im Juli 1793, inmitten der Tage der Schreckensherrschaft, die er noch erlebt, aber nicht mehr mit Augen gesehen hatte.
So etwa waren im Zusammenhange die Notizen, die die Gräfin vereinzelt gab. Sie wiegte sich in dem Bewußtsein ihrer Überlegenheit und wurde deshalb wenig angenehm überrascht, als Drosselstein, den Namen Lemierres einige Male wiederholend, wie wenn er sich auf etwas Halbvergessenes besinne, mit einem leisen Anfluge von Sarkasmus sagte: »Ja, es kann nur Lemierre gewesen sein; gnädigste Gräfin entsinnen sich gewiß des Bonmots, das bei Gelegenheit der zweiten Aufführung des ›Guillaume Tell‹ gemacht wurde? Ich fand es in den ›Anecdotes dramatiques‹.«
Die Miene, mit der Tante Amelie die Frage begleitete, ließ keinen Zweifel über die Antwort, so daß Drosselstein, um ihr die Verlegenheit eines »Nein« zu ersparen, ohne jede Pause fortfuhr: »Schon bei dieser zweiten Aufführung, trotzdem das Stück enthusiastisch aufgenommen worden war, war das Theater leer, und nur etwa hundert Schweizer hatten sich aus Patriotismus eingefunden. Einer von den anwesenden Franzosen bemerkte diese seltsame Zusammensetzung des Publikums und flüsterte seinem Nachbar zu: ›Sonst heißt es: kein Geld, keine Schweizer; hier würd’ es heißen müssen: keine Schweizer, kein Geld.‹«
Die Gräfin war selbst witzig genug, um
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