Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
zweiten Ranges empfunden haben würden! Ich täusche mich nicht in Ihnen, Sie hätten gesprochen nach Ihrem Herzen, nicht nach der Forderung gesellschaftlicher Konvention. Madame, ich rechne auf Ihre Verzeihung.«
Mademoiselle Alceste erhob sich mit einer Würde, als ob ihr mindestens eine Corneilleszene zu spielen auferlegt worden sei, und sagte: »Monsieur le baron, vous avez raison, et je suis heureuse de faire la connaissance d’un vrai gentilhomme. J’aime beaucoup la France, mais j’aime plus les hommes de bon coeur partout où je les trouve.« Dann, sich respektvoll vor der Gräfin verneigend, fuhr sie, gegen diese gewandt, fort: »Mille pardons, Madame la Comtesse, mais, sans doute, vous vous rappelez la maxime favorite de notre cher prince: la vérité c’est la meilleure politique.«
Die Gräfin reichte der alten Französin die Hand und lächelte gezwungen. Den Blick des Bruders vermied sie. Sie konnte Szenen wie diese vergessen, aber nicht sogleich. Der Augenblick behauptete sein Recht über sie. –
Es war elf Uhr vorüber. Das Gespräch, das schon zu lange literarisch geführt worden war, wandte sich jetzt den alleräußerlichsten Erörterungen zu und drehte sich um die Frage: wann der Wagen oder Schlitten vorfahren, wer aufbrechen oder bleiben solle. Gegen Tubals und Kathinkas Abreise wurde seitens der Gräfin ein entschiedenes Veto eingelegt, dem sich die Geschwister unschwer fügten. Sie willigten ein, zu bleiben, mit ihnen Dr. Faulstich und Mademoiselle Alceste. Kathinka verließ gleich darauf das Zimmer, angeblich, um ihren Koffer- und Etuischlüssel an Eva zu geben, in Wahrheit, um mit dieser zu plaudern. Denn sie war auch darin ganz Dame von Welt, daß ihr Kammermädchengeschwätz sehr viel und Professorenuntersuchung sehr wenig bedeutete.
In immer flüchtiger werdenden Fragen und Antworten setzte sich mittlerweile die Konversation fort, in die selbst einige Bammesche Drastika kein rechtes Leben mehr bringen konnten. Endlich schlug es zwölf; Berndt öffnete eines der Flügelfenster, um das alte Jahr hinaus-, das neue hereinzulassen und rief, während die frische Luft einströmte:
»Ich grüße dich, neues Jahr; oft hab’ ich dich kommen sehen, aber nie wie zu dieser Stunde. Es überrieselt mich süß und schmerzlich, und ich weiß nicht, ob es Hoffen ist oder Bangen. Wir haben nicht Wünsche, wir haben nur einen Wunsch: Seien wir frei, wenn du wieder scheidest!«
Die Gläser klangen zusammen, auch das Mademoiselle Alcestes. Sie teilte ihre patriotischen Empfindungen zwischen Ancien Régime und Republik; gegen den Kaiser, der ihr ein Fremder, ein Korse war, unterhielt sie einen ehrlichen Haß. So war denn nichts in ihrem Herzen, das dem unglücklichen Lande, in dem sie so viele glückliche Jahre gelebt hatte, die Rückkehr zu Freiheit und Machtstellung hätte mißgönnen können.
Die Aufregung, die der kurze Toast geweckt hatte, dauerte noch fort, als Kathinka wieder in den Saal trat.
»Wir haben Blei gegossen«, sagte sie lachend und legte einen blanken Klumpen, auf dem eine Moosgirlande sichtbar war, vor die Tante nieder. »Eva meint, daß es ein Brautkranz sei.«
Alle waren einig, daß Eva richtig gesehen und sehr wahrscheinlich noch richtiger prophezeit habe. So ging das gegossene Blei von Hand zu Hand. Es kam zuletzt auch an Lewin, auf den es bei seiner Befangenheit in abergläubischen Anschauungen einen Eindruck machte, daß der Kranz nicht geschlossen war.
Die Diener traten ein, um zu melden, daß die Wagen und Schlitten warteten. Berndt empfahl sich zuerst; dann folgten die anderen Gäste, meist paarweise oder mehr. Mit Drosselstein war der lebusische Landrat; sie hatten denselben Weg.
Nur Lewin fuhr allein. Aus den ersten Dörfern scholl ihm noch Musik entgegen; dazwischen Schüsse, die das neue Jahr begrüßten. Dann wurd’ es still, und nur das Bellen eines Hundes klang von Zeit zu Zeit aus der Ferne her. Sein Schlitten schaufelte, wo die Fahrstraße schlecht war, nach rechts und links hin den Schnee zusammen; er selber aber hing träumerisch den Bildern dieses Tages nach.
Auf dem Polstersitze saß wieder Kathinka; »nun ist es Zeit, Lewin, an unsere Lektion zu denken«, und er beugte sich vor, daß ihre Wangen einander berührten, und begann ihr die Verse vorzusprechen. Dann sah er sie auf der Bühne stehen, ruhig, ihres Erfolges sicher, und es war ihm, als vernähme er den Wohllaut ihrer Stimme. »Wie schön sie war!« Ein leidenschaftliches Verlangen ergriff ihn,
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