Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
éditeur à Kirch-Goeritz.
Die Mehrzahl der Anwesenden war mit dem Studium des Zettels noch nicht bis zur Hälfte gediehen, als das Zeichen mit der Klingel gegeben wurde. Nippler klopfte mit der steifen Papierrolle auf das Podium, und sofort begannen die Violinen ihr Werk; jetzt fiel die Flöte ein, während von Zeit zu Zeit des »Basses Grundgewalt« dazwischen brummte. Nun war es zu Ende, Nippler trocknete sich die Stirn, und die Gardine öffnete sich. Melpomene stand da.
Ein »Ah!« ging durch die ganze Versammlung, so von Herzen, daß auch einer zaghafteren Natur als der Kathinkas der Mut des Sprechens hätte kommen müssen.
Ehe sie begann, fragte Rutze leise den neben ihm sitzenden Baron Pehlemann: »Was stellt sie vor?«
»Melpomene.«
»Aber hier steht ja Prolog.«
»Das ist ein und dasselbe.«
»Ah, ich verstehe«, flüsterte Rutze mit einem Gesichtsausdruck, der über die Wahrheit seiner Versicherung die gegründetsten Zweifel erlaubte.
Kathinka trat einen Schritt vor. Sie trug ein weißes Gewand, an dem sich die Drapierungskunst Demoiselle Alcestens glänzend bewährt hatte, und stemmte ein hohes, grüneingebundenes Notenbuch – auf dessen beide Deckel eine Abschrift der zu sprechenden Strophen aufgeklebt worden war – mit ihrer Linken gegen die Hüfte. Die Rechte führte den Griffel. So sah sie einer Klio ähnlicher als einer Melpomene. Ruhig, als ob die Bretter ihre Heimat wären, das Auge abwechselnd auf die Versammlung und dann wieder auf das aushelfende Notenbuch gerichtet, sprach sie:
»Ihr kennt mich! Einst ein Götterkind der Griechen,
Irr’ ich vertrieben jetzt von Land zu Land,
Und Unkraut nur und Moos und Efeu kriechen
Hin über Trümmer, wo mein Tempel stand;
Ach oft in Sehnsucht droh’ ich hinzusiechen
Nach einem dauernd-heimatlichen Strand –
Raststätten nur noch hat die flücht’ge Muse,
Der liebsten eine hier, hier in Schloß Guse.
Und fragt ihr nach dem Lose meiner Schwestern?
Die meisten bangen um ihr täglich Brot,
Thalia spielt in Schenken und in Nestern
Und gar Terpsichore, sie tanzt sich tot;
So schritt ich einsam, als sich mir seit gestern
In meinem Liebling der Gefährte bot,
Ihr kennt ihn, und herzu zu diesem Feste
Bring’ ich das beste, was ich hab’: Alceste .«
Hier unterbrach sie sich einen Augenblick, wandte mit vieler Unbefangenheit das Notenbuch um, so daß der Rückdeckel, auf dem die Schlußstrophe stand, nach oben kam, und fuhr dann fort:
»Sie wünscht euch zu gefallen. Ob’s gelinget,
Entscheidet ihr; die Huld macht stark und schwach;
Und wenn ihr Wort euch fremd im Ohre klinget,
Dem Fremden eben gönnt ein gastlich Dach.
Empfanget sie, als ob ihr mich empfinget,
Ihr Vitzewitze, Drosselstein und Krach,
Mein Sendling ist sie, wollt ihm Beifall spenden,
›Ich habe keinen zweiten zu versenden.‹«
Die Gardine fiel. Lebhafter Beifall wurde laut, am lautesten von seiten Rutzes, der einmal über das andere versicherte, daß er nun völlig klar sehe und Faulstich bewundere, der dies wieder so fein eingefädelt habe. Der einzige, der bei dem kleinen Triumphe Kathinkas in Schweigen verharrte, war Lewin. Die Sicherheit, mit der sie die nur flüchtig gelernten Strophen vorgetragen hatte, hatte ihn inmitten seiner Bewunderung auch wieder bedrückt. »Sie kann alles, was sie will«, sagte er zu sich selbst; »wird sie immer wollen, was sie soll?«
In dem Reichbeanlagten ihrer Natur, in dem Übermut, der ihr daraus erwuchs, empfand er in schmerzlicher Vorausahnung, was sie früher oder später voneinander scheiden würde.
Die Pause war um, die Violinen intonierten leise, nur um anzudeuten, daß die nächste Nummer im Anzuge sei. Aller Blicke richteten sich auf den Zettel: »Scènes prises de Guillaume Tell. Erste Szene: Cléofé, épouse de Tell, s’adressant à son mari.« Im selben Augenblicke öffnete sich die Gardine. Eine Hintergrundsdekoration, die Berg und See darstellte, hatte sich jetzt vor den griechischen Tempel geschoben, das Kuhhorn erklang, und dazwischen läuteten die Glocken einer Herde. So verändert war die Szene; aber veränderter war das Bild, das innerhalb derselben erschien. An die Stelle der jugendlichen Gestalt in Weiß trat eine alte Dame in Schwarz: Mademoiselle Alceste , die die Kostümfrage mit äußerster Geringschätzung behandelt und, das schwarze Seidenkleid (ihr eines und alles) beibehaltend, sich damit begnügt hatte, durch einen langen Hirtenstab und einen den Guseschen Gewächshäusern entnommenen
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