Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
die Sielen und die Geläute aufzulegen, und die Krügersfrau stand in der Stalltür, ebensosehr, um selbst noch zu erzählen, wie, um Hohen-Vietzer Neuigkeiten gegen ihre Bohlsdorfer einzutauschen.
Lewin saß reisefertig in seinem Zimmer, während diese Gespräche geführt wurden. Er hatte schon einen Morgenspaziergang gemacht, nicht ins Freie hinaus, nur in die Kirche hinüber, um noch einmal den Grabsteinspruch zu lesen, den er längst auswendig wußte. Seit einer halben Stunde war er von da zurück und hielt ein zusammengefaltetes Blatt in Händen, dessen Inhalt ihn zu beschäftigen schien. Es war Marie Kniehases Brief, den er sich am Tage vorher, im Momente von Renatens Abreise, von dieser erbeten hatte. »Ich will ihn doch noch einmal überfliegen«, sagte er, beugte sich gegen das Fenster vor und las mit halblauter Stimme:
»Liebe Renate!
Deinen Brief habe ich gestern abend, wo Doktor Leist bei uns vorfuhr, erhalten. Um mit ihm noch persönlich zu sprechen, dazu war keine Zeit; er wollte bei der späten Stunde gleich weiter. Ich las und lief dann in meiner Herzensfreude zum Pastor, der kaum weniger freudig bewegt war als ich. Und doch ist es etwas Trauriges. Du schreibst: ›Warum er Berlin verlassen hat?‹ und fügst dann hinzu: ›Darüber habe ich nur Vermutungen, und auch diese kaum.‹ Ach, meine liebe Renate, ich weiß es, und in Traum und Wachen habe ich diese Stunde kommen sehen.
Hier ist alles still, viele Bauern und ihre Frauen sind zum Begräbnis Deiner Tante hinüber. Denn sie war doch auf ihre Art beliebt, und jeder sprach von ihr. Auch Seidentopf ist seit einer Stunde fort. Er will erst nach Guse, dann nach Küstrin und Hohen-Ziesar, und wir erwarten ihn erst am Schluß der Woche zurück. Welche seltsame Trauerversammlung wird um den Sarg der Tante stehen! Bamme, Rutze, Doktor Faulstich. Und denke Dir, auch Jeetze trauert. Es rührte mich fast, als ich ihn heute sah. Er hat ein paar schwarze Gamaschen hervorgesucht – ›noch von der gnädigen Frau her‹, sagte er, und einen Flor.
Meine Gedanken sind beständig bei Euch; sie wandern von einem Giebelzimmer in das andere, und mir ist immer, als kennte ich das Dorf. Es ist dasselbe, von dem uns Lewin am ersten Feiertage erzählte, und ich sehe noch alles vor mir: den Christbaum mit der jungen, hübschen Krügersfrau und den Blondkopf und dann die dunkle Kirche mit der Stehleiter am Altar und der kleinen Handlaterne. Und vor dem Altar liegt der Grabstein mit dem schönen Spruch, den ich mir seitdem wohl hundertmal vorgesprochen habe. Mir ist dann immer, als wüchse ich und könnte fliegen.«
Hier hielt Lewin einen Augenblick inne und wiederholte sich die Worte: als wüchse ich und könnte fliegen. »Wie gut sie es trifft«, setzte er hinzu. Dann nahm er das Blatt, das er aus der Hand gelegt hatte, wieder auf und las bis zu Ende.
»Gebe Gott, daß sich des alten Leist Prophezeiungen erfüllen; er hat versprochen, diese Zeilen wieder mit zurückzunehmen, und ich schicke sie durch Hoppenmarieken nach Lebus. Sie wartet draußen und stößt mit ihrem Stock auf die Flurfliesen, ein Zeichen, daß sie ungeduldig wird. Ich fürchte mich viel zu sehr vor ihr, um ihre schlechte Laune noch wachsen zu lassen. Und so lebe denn wohl, meine einzig geliebte Renate, mein Glück, mein Stolz und meine Zuversicht. Grüße die Schorlemmer, und wenn Lewin die Augen aufschlägt, so denke recht innig auch an mich. Dann fühl’ ich es in meinem Herzen.
Deine Marie .«
Lewin, als er zu Ende gelesen, erhob sich und trat an den Zeisigbauer, um dem Vögelchen, das ihm die langen Stunden des voraufgegangenen Tages so freundlich weggezwitschert hatte, zu Dank und Abschied ein Zuckerstückchen zwischen die Stäbe zu stecken.
Er wollte sich eben wieder setzen, als Krist eintrat, um zu melden, daß alles fertig und der Schlitten vorgefahren sei. Zugleich bepackte er sich mit der ganzen Winterausstattung, die unangerührt auf der Bettdecke liegengeblieben war, und stapfte wieder treppab, während Lewin ihm folgte. Auf der Türschwelle blieb dieser noch einmal stehen und sah in das Zimmer zurück. Er war nicht erschüttert, auch nicht eigentlich bewegt (die Nachwehen der Krankheit hielten ihn noch in ihren Banden), aber aller Apathie zum Trotz empfand er doch deutlich, was ihm die hier verbrachten Tage gewesen waren und daß ein Leben hinter ihm versank und ein anderes begann.
Unten stand die Krügersfrau. Kemnitz war noch nicht zurück, aber ihr Prachtstück, den
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