Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
Herrn: ein neuer Tag ist da.«
Und nun begann er seiner Gemeinde zu zeigen, was dieser »neue Tag« erheische und bedeute: Rückkehr zur Wahrheit, Rückkehr zu dem Mute, den die Wahrheit gibt. Er führte dies aus und nannte »die Wehrhaftigkeit des Volkes«, wie sie durch den heute verlesenen Aufruf proklamiert worden sei, eine Morgengabe, eine Gewähr besserer Zeiten. Im Gegensatz zu Jahrzehnten, wo der Übermut des Soldaten den Mut für etwas ihm ausschließlich Zuständiges gehalten habe, sei der Mut jetzt eine Pflicht jedes einzelnen geworden. Und diesen Mut würden auch sie zu betätigen haben, jede Stunde könne sie rufen, und käme sie, so sollten sie sich derselben würdig zeigen.
Andächtig war die Gemeinde gefolgt. Auch Lewin hatte diesmal nicht Zeit gefunden, nach dem Rotkehlchen auszuschauen, und nur Tubals Aufmerksamkeit war bald abgeirrt und hatte zwischen dem großen Grabdenkmal und dem silbernen Altarkruzifix einen mechanischen Pendelgang gemacht, den die wunderlichsten Fragen begleitet hatten. »Wieviel hat das Grabdenkmal gekostet?« »Wovon sind die Messingleuchter so blank?« »Welcher Vitzewitz hat das Kruzifix gestiftet?« und dann waren neue Fragen gekommen, um schließlich den ersten wieder Platz zu machen. Und woher das alles? Hatten die Seidentopfschen Worte doch eines tieferen Tones entbehrt? O nein. Aber auf ihrem unausgesetzten Gange zwischen dem Grabdenkmal und dem Kruzifix waren seine Blicke Marie begegnet. Das war es. Ihr Mund zuckte von Zeit zu Zeit, und ihre großen dunklen Augen erschienen wie geschlossen, so tief lagen sie unter dem Schatten ihrer Wimpern. Er sah das blasse, feingeschnittene Profil, und sah es, bis er nur noch sah und nichts mehr hörte als die vorwurfsvolle Stimme in seinem Innern, die leise seine Blicke begleitete.
Die Predigt hatte mittlerweile geschlossen, nur das Gebet war noch zu sprechen, und alles sah erwartungsvoll zu der Kanzel auf, auch Marie. Sie fühlte wohl, daß Blicke von dem Chorstuhl her sie trafen, aber sie hatte die Kraft, dieser Blicke nicht zu achten oder doch in ihrer Seele sich ihrer zu erwehren, denn sie war reinen Gemüts und ohne Schein und Falsch.
Seidentopf aber betete: »Barmherziger Gott und Herr. Du hast Großes an uns getan, daß du uns berufst, um ein freies und würdiges Dasein zu kämpfen. Steh uns bei. Der Sieg kommt von dir, und mit Vertrauen ist es, daß wir Heil und Segen für unser Tun von dir erflehen. Schütze den König, verleihe Weisheit und Kraft den Heerführern, Mut denen, die die Waffen tragen, treue Ausdauer aber allen , auch uns. Und wie das Glück des Krieges auch wechseln möge, eines gib uns als seine letzte Segnung, gib uns Freiheit und Frieden .«
Nun fiel wieder die Orgel ein, der letzte Vers wurde gesungen, und langsam erhoben sich die Hohen-Vietzer und verließen die Kirche. Marie blieb zurück, um Renaten und die Schorlemmer zu begrüßen; dann schritten sie gemeinschaftlich den Mittelgang hinunter. Tubal und Lewin folgten.
Als alle den spitzbogigen Mauereinschnitt erreicht hatten, der von der Seite her in den Turm führte, bemerkte Marie, daß sie das Gesangbuch sehr wahrscheinlich auf ihrem Sitzplatze habe liegen lassen. Sie wollte umkehren, aber Tubal litt es nicht und schritt den Mittelgang wieder hinauf, um das vermißte Buch zu holen. Marie sah ihm nach und wartete, während die andern durch das Außenportal ins Freie traten.
Das Buch war nicht da. Tubal, nachdem er erst auf der Bank und dann am Fußboden hin- und hergesucht hatte, richtete sich endlich wieder auf und machte mit beiden Armen ein Zeichen, das die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ausdrücken sollte.
Marie rief ihm zu: »Da muß ich selber kommen«, und ging nun ebenfalls das Kirchenschiff hinauf. Aber in diesem Augenblicke hatte sich das Buch auch schon auf einem schmalen Brett unter der pultartigen Schrägung gefunden, und Tubal hielt es triumphierend in die Höhe und ihr entgegen. Sie nahm es dankend aus seiner Hand, wandte sich dann und schritt eilig wieder dem Ausgange zu; ehe sie diesen jedoch erreicht hatte, hörte sie, daß von außen her zugeschlossen wurde. Der alte Kubalke, von seinem Orgelchor herabkommend, hatte nicht bemerkt, daß noch wer in der Kirche war.
Marie fuhr zusammen, faßte sich indessen rasch und sagte: »Wir sind eingeschlossen, bitte, pochen Sie schnell an die Tür.«
Auch Tubal war erschrocken, aber anders als seine Gefährtin. Er fühlte sich wie von einem elektrischen Schlage
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