Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
stand wieder die Menge, und hinter dem Altar, der zu Füßen des hohen Chors errichtet war, blitzte ein goldenes Riesentuch, das, scheinbar von der Decke herabhängend, wie eine Zauberwand die Kirche nach hinten zu abschloß. In Front dieser Wand, wie eine Reihe von Weihnachtsbäumen, stand Kandelaber neben Kandelaber, viele hundert Lichter brannten, und immer neue Weihrauchwolken stiegen auf. Dazwischen spielte die Orgel unter Zugrundelegung moderner Opernweisen; Bellini, Donizetti, aber Verdi herrschte vor. Dann plötzlich trat eine Stille ein; alles kniete; und wie ein Rätselvolles zog es uns zu Häupten hin. Als sich’s mählich wieder zu regen begann, fiel auch die Orgel mit neuen, immer schmeichlerischen Klängen ein, und im selben Augenblick erschienen Chorknaben auf kleinen Leitern und Estraden, mit Lichthütchen in Händen, um die Kerzen vor der goldenen Altarwand zu löschen. Alle Türen öffneten sich, und in dichten Kolonnen drängten Hunderte den Ausgängen zu. Zugleich mit ihnen kam eine Prozession weißgekleideter Mönche das Mittelschiff herunter, jeder einzelne eine Wachsfackel in Händen, und schritt auf das Portal zu. Glück über Glück! Der Wunsch, um dessentwillen ich in die Kirche eingetreten war, im letzten Moment noch sollte er sich mir erfüllen. Als der Zug bis in die Nähe des Ausgangs gekommen, fiel ein Lichtstreifen auf den Pfeiler, an dem Masaccios Gekreuzigter hing, und Gottvater selbst stützte ihn wieder lieb- und hilfreich mit seiner Rechten. In dem Christuskopfe derselbe Leidenszug, der am Vormittage so ergreifend zu mir gesprochen hatte, aber in sein Leid hinein mischte es sich wie Wehmut, und in der Wehmut blitzte es wie ein schmerzliches Lächeln. Dann schwand das Bild wie eine Vision, und alles war wieder Nacht.
Zwölf Stunden später, oder wenig mehr, keuchte die Lokomotive die Brennerbahn hinan, und – das »schöne Land Italien« lag hinter mir.
Brief: An Mathilde von Rohr, Berlin, 24. November 1874
Autobiographisches
Fontane, 1897
Vorwort
Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. Denn mit mehr als einem Bande herauszutreten, wollte mir nicht rätlich erscheinen. Und so blieb denn nur noch die Frage, ›welchen‹ Abschnitt ich zu bevorzugen hätte.
Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also »to begin with the beginning«. Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre stecke der ganze Mensch. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. Entgegengesetztenfalls verbliebe mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas ›Zeitbildliches‹ gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Réfugié-Traditionen erfüllten Französischen-Kolonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren. Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines »autobiographischen ›Romanes‹« gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!
Th. F .
Erstes Kapitel
Meine Eltern
An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neuruppin, und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr – man heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh – war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahr alt. Es waren meine Eltern.
Ich gebe zunächst eine biographische Skizze beider.
Mein Vater Louis Henri Fontane, geb. am 24. März 1796, war der Sohn des Malers und Zeichenlehrers Pierre Barthélemy Fontane. Was dieser, mein
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