Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
Gesang eben beendet worden war. Herr Pickwick überließ es seinem Diener, sich am Ausschank zu stärken, und wurde zu Herrn Lowten geführt.
Auf die Ankündigung, »es will Sie jemand sprechen, Sir«, richtete ein junger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der den Stuhl am oberen Ende der Tafel einnahm, seine Blicke erstaunt nach der Gegend, aus der die Stimme kam. Sein Erstaunen schien sich keineswegs zu vermindern, als seine Augen auf einer Person haften blieben, die er nie zuvor gesehen hatte.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir«, begann Herr Pickwick, »und auch für die andern Herren tut es mir leid, daß ich Sie störe, aber ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, und wenn Sie mir in einer Ecke dieses Zimmers fünf Minuten lang Gehör schenken wollen, so werden Sie mich sehr zu Dank verpflichten.«
Der junge Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht stand auf, zog einen Stuhl in einen dunklen Winkel zu Herrn Pickwick und lauschte aufmerksam seiner Schmerzensgeschichte.
»Ja«, sagte er, als Herr Pickwick geendet hatte, »Dodson und Fogg – erfahrene Praktiker das – Kapitalgeschäftsleute, Dodson und Fogg, Sir.«
Herr Pickwick gab die praktischen Kenntnisse der Herren Dodson und Fogg zu, und Lowten fuhr fort:
»Perker ist nicht hier und wird auch vor Ende der nächsten Woche nicht zurückkommen. Aber wenn Sie eine Entgegnung wünschen und mir die Abschrift der Klage mitteilen wollen, so kann ich alle Schritte einleiten, die bis zu seiner Zurückkunft nötig sind.«
»Eben deshalb bin ich hier«, sagte Herr Pickwick, ihm die Schrift einhändigend. »Wenn etwas Besonderes vorfällt, können Sie mir durch die Post nach Ipswich schreiben.«
»Ganz recht«, antwortete Herrn Perkers Schreiber: und als er sah, daß Herrn Pickwicks Augen neugierig über die Tafel liefen, fügte er hinzu: »Wollen Sie uns auf ein halbes Stündchen ihre Gesellschaft gönnen? Wir haben heute abend ein Kapitalklübchcn beisammen. Hier ist Samkins und Greens Sekretär und Smithers und Prices Kanzlist und Pimkins und Thomas’ Schreiber – singt vortrefflich, ja, das tut er – und da ist ferner noch Jack Bamber und so weiter. Sie kommen vermutlich vom Lande, wollen Sie nicht mitmachen?«
Pickwick konnte der lockenden Gelegenheit, die menschliche Natur zu studieren, nicht widerstehen. Er ließ sich an die Tafel führen und der Gesellschaft in gehöriger Form vorstellen. Als ihm ein Sitz neben dem Präsidenten eingeräumt war, bestellte er ein Glas von seinem Lieblingsgetränk.
Ganz gegen die Erwartung Herrn Pickwicks erfolgte tiefe Stille.
»Ich hoffe, der Glimmstengel wird Ihnen nicht unangenehm sein, Sir?« sagte sein Nachbar zur Rechten, in einem gestreiften Hemd mit Mosaikknöpfen, mit einer Zigarre im Munde.
»Nicht im geringsten«, erwiderte Herr Pickwick: »ich bin ein sehr großer Freund davon, obgleich ich selbst nicht rauche.«
»Das möchte ich von mir nicht behaupten«, fiel ein anderer Herr an der gegenüberstehenden Seite des Tisches ein. »Rauchen ersetzt mir Wohnung, Speise und Trank.«
Herr Pickwick sah den Sprecher an und dachte: »wenn es ihm auch die weiße Wäsche ersetzen würde, so wäre es noch besser.«
Eine neue Pause trat ein. Herr Pickwick war ein Fremder, und seine Gegenwart hatte offenbar etwas Drückendes für die Gesellschaft.
»Herr Grundy wird uns mit einem Liedchen erfreuen«, sagte der Präsident.
»Nein, er wird es nicht«, sagte Herr Grundy.
»Warum nicht?« fragte der Präsident.
»Weil ich nicht kann«, versetzte Herr Grundy.
»Sie würden besser sagen, ›weil ich nicht mag‹«, erwiderte der Präsident.
»Nun denn, ich mag nicht«, sagte Herr Grundy.
Und Herrn Grundys bestimmte Weigerung, die Gesellschaft zu unterhalten, veranlaßte abermaliges Schweigen.
»Will niemand die Unterhaltung beleben?« fragte der Präsident mit dem Tone der Mutlosigkeit.
»Warum beleben Sie sie nicht selbst, Herr Präsident?« sagte ein junger Mann mit einem Backenbart, einem schielenden Auge und einem schmutzigen, offenen Hemdkragen, am untern Endes des Tisches.
»Hört, hört!« rief der rauchende Herr mit den Mosaikknöpfen.
»Weil ich nur ein einziges Lied kann und es bereits gesungen habe«, versetzte der Präsident: »es kostet ja ein Strafglas für jeden in der Gesellschaft, wenn man an einem Abend dasselbe Lied zweimal singt.«
Dagegen ließ sich nichts einwenden, und das Gespräch stockte abermals.
»Ich war heute abend«, sagte Herr Pickwick, »der Hoffnung, etwas zur Sprache zu
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