Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
seiner ganzen Gestalt solche Verheerungen angerichtet, daß seine Leidensgefährten vor ihm zurückbebten, als er an ihnen vorüberkam. Seine Augen waren blutunterlaufen und quollen hervor. Sein Gesicht war totenbleich und sein Körper wie unter der Last der Jahre gebeugt. In der Heftigkeit seines Seelenschmerzes hatte er seine Unterlippe beinahe ganz durchbissen; das Blut war am Kinn niedergeflossen und hatte sein Hemd und sein Halstuch befleckt. Keine Träne, kein Klageslaut entfloh ihm, aber der unstete Blick und die regellose Hast, mit der er im Hofe auf und ab rannte, verrieten das Fieber, das in seiner Brust brannte.
Ohne Verzug mußte der Leichnam aus dem Gefängnis entfernt werden. Der verlassene Gatte empfing diese Mitteilung mit vollkommener Ruhe und billigte die Anordnungen, die man deshalb traf.
Beinahe sämtliche Bewohner des Gefängnisses hatten sich versammelt, um der Wegschaffung der Leiche zuzusehen. Sie wichen auf beiden Seiten zurück, als der unglückliche Witwer erschien, der rasch vorwärts schritt und auf einem kleinen eingefaßten Platze, nahe am Gefängnistor, von den Übrigen entfernt, stehenblieb. Die Menge hatte sich aus angeborenem Zartgefühl zurückgezogen. Der grobe Sarg wurde langsam auf den Schultern fortgetragen, und Totenstille herrschte unter den Anwesenden, die nur durch die lauten Wehklagen der Frauen und den Widerhall der Tritte der Träger auf dem Steinpflaster unterbrochen wurde. Sie erreichten den Ort, wo der Arme stand, und machten halt. Er legte seine Hand auf den Sarg, zog mechanisch das Tuch an, womit er bedeckt war, und winkte ihnen, weiterzugehen. Die Schließer am Eingange des Gefängnisses nahmen ihre Hüte ab, als die Leiche vorübergetragen wurde, und im nächsten Augenblick schloß sich das schwere Tor hinter dem Zuge. Der Arme sah mit einem gläsernen Blick auf die Menge und fiel mit seiner ganzen Schwere zu Boden.
Viele Wochen lang lag er Tag und Nacht in den wildesten Fieberträumen. Aber das Bewußtsein seines Verlustes und die Erinnerung an sein Gelübde verließen ihn keinen Augenblick. Unaufhörlich wechselten die Szenen vor seinen Augen. Schauplatz folgte auf Schauplatz und Ereignis auf Ereignis, mit der Blitzesschnelle des Wahnwitzes. Aber alle knüpften sich auf die eine oder andere Weise an den großen Gegenstand, mit dem sein Geist beschäftigt war. Er segelte über die grenzenlose Fläche des Ozeans; die Wolken über ihm waren blutrot und die wilden Wasser kochten und schäumten in furchtbarer Wut auf allen Seiten. Ein anderes Schiff fuhr vor ihm her, das gegen den heulenden Sturm mit aller Kraft ankämpfte, die Segel flatterten zerrissen vom Mast, und das Verdeck war voll von Gestalten, die hin und her geworfen wurden, während sich ungeheure Wellen jeden Augenblick über ihm brachen und ihre Opfer in die rauchende See schwemmten. Sie fuhren durch das brüllende Gewässer mit einer Eile und Gewalt, der nichts widerstehen konnte; sie zerschmetterten den Bug des vorderen Schiffes und drückten es in den Grund. Aus dem furchtbaren Wirbel, der das sinkende Wrack umschäumte, stieg ein so lautes und durchdringendes Geschrei empor – das fürchterliche Angstgeschrei hundert Unglücklicher, die in den Wellen ertranken – daß es das Wutgebrüll der Elemente übertäubte, und hallte und widerhallte, bis es die Luft, das Firmament und den Ozean zu durchdringen schien. Doch was war das? – der alte Graukopf, der aus dem Wasser emportauchte, mit dem Blicke des Todeskampfes und dem Angstgeschrei um Hilfe, von den Wellen gepeitscht! Ein Blick und er war über Bord gesprungen und arbeitete sich mit Riesenkraft durch die wilde See. Er schwamm auf diesen zu; er kam dicht an ihn heran. Es waren seine Züge; der Alte sah ihn kommen und suchte ihm vergeblich zu entrinnen. Aber er faßte ihn fest um den Leib und zog ihn in die Tiefe nieder. Hinunter, hinunter mit ihm, fünfzig Klafter tief; seine Anstrengungen wurden schwächer und schwächer, bis sie endlich ganz aufhörten. Er war tot; er hatte ihn getötet und seinen Schwur gehalten.
Barfuß und allein ging er über den brennenden Sand einer ungeheuren Wüste. Der Sand versetzte ihm den Atem und blendete ihn. Die feinen Körnchen drangen durch alle Poren seiner Haut und peinigten ihn fast bis zum Wahnsinn, Gigantische Staubmassen schwebten, vom Winde getragen und von der brennenden Sonne durchglüht, in der Ferne gleich Säulen lebendigen Feuers dahin. Die Gebeine eines Menschen, der in der traurigen Wüste
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