Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
näher. Zwei Monate lang wartete sie und ihr Kind regelmäßig alle Morgen auf das Öffnen des Tors. Eines Tages erschien sie zum ersten Male nicht. Am andern Morgen kam sie, aber sie war allein, das Kind war tot.
Die, welche mit kaltem Herzen von den Verlusten des Armen als einer glücklichen Erlösung für die Hingeschiedenen und einer segensreichen Erleichterung für die Hinterbliebenen reden, wissen wenig von dem Schmerz solcher Verluste. Ein stiller Blick der Liebe und Achtung, wenn sich alle andern Augen kalt von uns abwenden – das Bewußtsein, daß wir uns der Teilnahme und Liebe eines Wesens erfreuen, wenn alle andern uns verlassen haben – ist ein Halt, eine Stütze, ein Trost in der tiefsten Betrübnis, die kein Reichtum erkaufen, keine Gewalt gewähren kann. Das Kind hatte stundenlang zu seiner Eltern Füßen gesessen, die kleinen Händchen geduldig gefaltet und das abgezehrte, bleiche Gesicht auf sie gerichtet. Sie hatten es von Tag zu Tag dahinwelken sehen, und obgleich sein kurzes Dasein ein freudloses gewesen und es jetzt den Frieden und die Ruhe gefunden hatte, die ihm, so jung es noch war, in dieser Welt versagt waren, so waren es doch seine Eltern, und sein Verlust drang ihnen tief ins Herz.
Die, welche das veränderte Gesicht der Mutter betrachteten, sahen deutlich, daß der Tod ihren Drangsalen und ihrem Elend bald ein Ende machen mußte. Die Mitgefangenen ihres Gatten mochten sich ihm in seinem Gram und Jammer nicht aufdringen und überließen ihm das kleine Gemach, das er bisher mit zwei Leidensgefährten geteilt hatte, allein. Seine Gattin bewohnte es mit ihm, und ohne Schmerz, aber auch ohne Hoffnung, welkte sie langsam dem Grabe zu.
Eines Abends war sie in ihres Gatten Armen ohnmächtig geworden. Er hatte sie ans offene Fenster getragen, um sie durch die Luft wieder ins Leben zurückzurufen, als ihm das Licht des Mondes, das auf ihr Gesicht fiel, eine Veränderung in ihren Zügen zeigte, die ihn so sehr ergriff, daß er gleich einem hilflosen Kind unter ihrer Last wankte.
›Setze mich nieder, Georg‹, sagte sie mit matter Stimme. Er tat es und, sich neben sie setzend, bedeckte er sein Gesicht mit seinen Händen und brach in Tränen aus.
›Es ist sehr hart, Georg, dich zu verlassen‹, sagte sie; ›aber es ist der Wille Gottes, und du mußt dich um meinetwillen darein ergeben. Ach, wie danke ich ihm, daß er unser Kind zu sich genommen. Es ist jetzt glücklich und im Himmel. Was würde es hier getan haben ohne seine Mutter?‹
›Du darfst nicht sterben, Marie, du darfst nicht sterben‹, sagte der Gatte aufspringend. Er ging hastig auf und nieder und schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf. Dann setzte er sich wieder neben sie, nahm sie in seine Arme und sagte ruhiger: ›Ich bitte dich, sei guten Muts, liebes Kind; du wirst dich wieder erholen.‹
›Nimmermehr Georg; nimmermehr‹, sagte die Sterbende. ›Sorge dafür, daß sie mich neben mein armes Kind legen. Aber versprich mir, wenn du je diesen traurigen Ort verlassen und reich werden wirst, uns in einem stillen ländlichen Kirchhof, weit, weit von hier – sehr weit von hier – begraben zu lassen, wo wir im Frieden ruhen können. Willst du mir das versprechen, lieber Georg?‹
›Ich verspreche es, ich verspreche es‹, sagte der Mann, sich leidenschaftlich vor ihr auf die Knie werfend. ›Rede mit mir, Marie – nur ein Wort: einen Blick – nur einen –‹
Er verstummte, denn der Arm, der seinen Nacken umschlungen hielt, wurde steif und schwer. Ein tiefer Seufzer rang sich aus der abgezehrten Gestalt, die in seinen Armen lag; die Lippen bewegten sich und ein Lächeln spielte auf ihrem Gesicht. Aber die Lippen waren bleich und das Lächeln verzog sich zu einem schrecklichen Starrblick. Er war allein auf der Welt.
In der Stille und Einsamkeit seines elenden Gemachs kniete der unglückliche Mann in der darauffolgenden Nacht vor der Leiche seines Weibes, und rief Gott zum Zeugen eines furchtbaren Eidschwurs an, daß er von Stunde an nur darauf ausgehe, ihren und seines Kindes Tod zu rächen; daß er von nun an bis zum letzten Augenblicke seines Lebens alle seine Kräfte nur diesem einen Zwecke widmen wolle; daß seine Rache langwierig und fürchterlich, und sein Haß ewig und unauslöschlich sein solle, und daß er den Gegenstand dieses Hasses bis an die Grenzen der Welt verfolgen wolle.
Die höchste Verzweiflung und eine übermenschliche Leidenschaft hatten in dieser einen Nacht auf seinem Gesicht und in
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