Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
umgekommen, lagen zerstreut zu seinen Füßen. Ein furchtbarer Glanz beleuchtete alles, was ihn umgab; und so weit sein Auge reichte, begegnete es nur Bildern des Schreckens und Entsetzens. Vergeblich mühte er sich, mit der am Gaumen klebenden Zunge einen Angstruf hervorzustoßen und lief wie wahnsinnig weiter. Mit übernatürlicher Kraft watete er durch den Sand, bis er von Ermattung und Durst erschöpft, bewußtlos zu Boden sank. Welch eine erfrischende Kühle belebte ihn wieder! Was für ein murmelnder Laut war das? Wasser! Es war wirklich ein Quell; und der klare frische Strom ergoß sich zu seinen Füßen. Er trank in tiefen Zügen, warf seine schmerzhaften Glieder auf den Rasen und sank in erquickenden Schlummer. Der Laut sich nähernder Fußtritte weckte ihn. Ein alter Mann mit grauen Haaren wankte vorwärts, um seinen brennenden Durst zu löschen. Er war es wieder; er schlang seine Arme um des alten Mannes Leib und hielt ihn zurück. Er krümmte sich in furchtbaren Krämpfen und schrie nach Wasser, denn es bedurfte nur eines Tropfens, sein Leben zu fristen. Aber er hielt den Alten fest, und weidete sich mit gierigem Auge an seinem Todeskampf, und als das leblose Haupt auf die Brust hinsank, stieß er den Leichnam mit den Füßen von sich.
Als ihn das Fieber verließ und sein Bewußtsein wiederkehrte, war er auf einmal reich und frei. Er vernahm, daß sein Vater, der ihn im Gefängnis hatte sterben lassen wollen – der die, welche ihm teurer waren als sein eigenes Leben, an Mangel und Gram, den keine Arznei zu heilen vermag, hatte sterben lassen – tot in seinem Daunenbette gefunden worden sei. Dieser Vater war fest entschlossen gewesen, seinen Sohn als Bettler auf der Welt zurückzulassen. Aber auf seine Gesundheit und Kraft pochend, hatte er die Enterbung hinausgeschoben, bis es zu spät war. – Nun mochte er in der andern Welt die Zähne knirschen, bei dem Gedanken an den Reichtum, den ihm seine Versäumnis hinterlassen hatte. Dazu erwachte er – und zu noch mehr – nämlich zur Erinnerung an den Zweck, für den er jetzt leben sollte, und zur Erinnerung daran, daß sein Feind seines eigenen Weibes Vater war – der Mann, der ihn ins Gefängnis geworfen und der seine Tochter und ihr Kind, die zu seinen Füßen um Gnade gefleht, vor die Tür gestoßen hatte.
O, wie verwünschte er die Schwäche, die ihn noch hinderte, sich aufzumachen und für seine Rachepläne tätig zu sein! Er ließ sich von dem Schauplatze seines Verlustes und Elends wegführen und wählte sich einen ruhigen Wohnplatz an der Meeresküste – nicht in der Hoffnung, seinen innern Frieden und seine Seligkeit wiederzufinden; denn beide waren für immer entflohen, sondern um seine gesunkenen Kräfte wieder zu heben und über seinen Lieblingsplan nachzudenken. Und hier warf ihm auch irgendein böser Geist die erste Gelegenheit zu der furchtbarsten Rache in den Weg.
Es war Sommer. In seine finstern Gedanken vertieft, verließ er früh am Abend seine einsame Wohnung und verfolgte einen schmalen Pfad zwischen den Klippen nach einem wilden und einsamen Ort, der auf seinen Streifereien seine Phantasie besonders erregt hatte. Er setzte sich auf verwitterte Felstrümmer und blieb dort, das Gesicht mit den Händen bedeckt, stundenlang – oft bis die Nacht völlig hereingebrochen war und die langen Schatten der zürnenden Klippen über seinem Kopf alles um ihn her in dichte Finsternis verhüllt hatten.
Hier saß er an einem ruhigen Abend in seiner gewohnten Stellung, bisweilen den Kopf erhebend, um den Flug einer Seemöwe zu beobachten, oder mit seinen Blicken den prächtigen Rosenstreifen zu verfolgen, der in der Mitte des Ozeans anfing und bis zu seinem äußersten Rande hinzulaufen schien. Eben ging die Sonne unter, als die tiefe Stille des Orts durch einen lauten Hilferuf unterbrochen wurde. Er lauschte, ob er auch recht gehört habe, als sich der Ruf mit noch größerer Stärke wiederholte, und schnell aufspringend eilte er in der Richtung weiter, aus der jener Ruf gekommen war.
Das Vorgefallene erklärte sich auf einen Blick selbst: Einige zerstreute Kleidungsstücke lagen am Strand; der Kopf eines Menschen zeigte sich in geringer Entfernung von der Küste über den Wellen. Ein alter Mann lief, in Todesangst die Hände ringend, auf und nieder, und schrie um Hilfe. Der Wiedergenesene, dessen Kräfte nun wieder so ziemlich hergestellt waren, warf den Rock weg und eilte der See zu, um sich hineinzustürzen und den Ertrinkenden ans Ufer zu
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