Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
ist wahrhaftig geschehen, wenn Sie es so haben wollen«, sagte Wardle lachend. »Er wurde von den Gespenstern geholt, Pickwick, und damit lassen wir die Sache auf sich beruhen.«
»Nein, nein«, rief Herr Pickwick, »wir lassen die Sache nicht auf sich beruhen: denn ich muß auch wissen, wie und warum und unter welchen Umständen.«
Wardle lächelte, als er sah, daß jedermann begierig war, die Geschichte zu hören: und mit freigebiger Hand einschenkend, trank er Herrn Pickwick auf seine Gesundheit zu und begann wie folgt –
Doch der Himmel vergebe es unserm schriftstellerischen Gewissen – zu welch einem langen Kapitel haben wir uns hinreißen lassen! Wir erklären hiermit feierlich, daß wir unsere Sparsamkeit in bezug auf den Raum, den wir unserm Kapitel gönnen, gänzlich vergessen haben. So wollen wir denn das Gespenst gleich in ein neues Hinüberwerfen, und ich kann Sie versichern, meine Damen und Herrn, es geschieht das nicht aus Vergünstigung gegen die Gespenster, sondern bloß aus Rücksicht auf die Station.
Dreißigstes Kapitel
Die Geschichte von den Gespenstern, die einen Totengräber entführen.
In einer alten Klosterstadt in diesem Bezirke unserer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, daß die Geschichte wahr sein muß, weil unsere Urahnen schon unbedingt daran glaubten – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, daß ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, daß er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muß. Unsere Leichenwärter sind die fröhlichsten Leute von der Welt. Ich hatte einmal die Ehre, mit einem Stummen auf dem vertrautesten Fuße zu stehen. Der war in seinem Privatleben und außer seinem Beruf ein so spaßhafter und jovialer Junge, als je einer ein lustig Liedchen pfiff, ohne von seinem Gedächtnis verlassen zu werden. Auch leerte er ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog, ohne daß ihm die Puste ausging. Aber trotz alledem war Gabriel Grub ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Mann, der mit niemandem als mit sich selbst und mit einer alten in Weiden geflochtenen Fläche, die in seiner großen tiefen Westentasche steckte, Umgang hatte. Jedes fröhliche Gesicht, das ihm vorkam, sah er mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick an, daß man ihm unmöglich begegnen konnte, ohne sich unheimlich berührt zu fühlen.
An einem Weihnachtabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof; denn er mußte bis zum nächsten Morgen ein Grab fertigbringen. Da er sich gar nicht gut aufgelegt fühlte, dachte er, es könnte ihn vielleicht ermuntern, wenn er sich sogleich an die Arbeit machte. Als er die gewohnte Straße entlang ging, sah er das lustige Licht des lodernden Feuers durch die alten Fenster schimmern und hörte das laute Gelächter und den fröhlichen Lärm derer, die darum versammelt waren. Er gewahrte die geräuschvollen Vorbereitungen zur Bewillkommnung des folgenden Tages und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwallten. All das war dem Herzen Gabriels wie Gift und Galle. Scharen von Kindern sprangen aus den Häusern, trippelten über die Straße hinüber und, ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnten, wurden sie von einem Halbdutzend kleinen Lockenköpfen empfangen, die sie umringten. Dann sprangen sie die Treppen hinauf, um den Abend mit Weihnachtsspielen zuzubringen. Gabriel aber lächelte darob grimmig, faßte den Handgriff seines Spatens fester an und dachte an Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten und eine Menge anderer Trostquellen.
In dieser glücklichen Gemütsverfassung schritt Gabriel weiter, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorbeischritten, mit einem kurzen, mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gäßchen einbog, das auf den Kirchhof führte.
Nun hatte sich Gabriel nach dem dunklen Gäßchen gesehnt, weil es überhaupt ein düstrer, trauriger Platz war, den die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag, wenn die Sonne schien, besuchten. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggäßchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen
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