Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
ziemlich weit voneinander entfernt, sondern waren auch meistenteils fast unsichtbar. Sam starrte weiter auf das staubige Tor, und zwar auf die Stelle, durch die der Knecht verschwunden war. Er war in tiefes Nachsinnen über die Schwierigkeiten seiner dermaligen Unternehmungen versunken, als das Tor sich öffnete und ein Mädchen auf die Gasse herauskam, um einige Teppiche auszuklopfen.
Sam war so durchaus mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß er höchstwahrscheinlich weiter keine Notiz von der jungen Dame genommen, sondern etwa nur den Kopf aufgerichtet und bemerkt hätte, es sei ein recht hübsches Figürchen, wären nicht seine Kavaliergefühle gewaltig durch die Beobachtung ermuntert worden, daß sie keinen Gehilfen hatte und die Teppiche für ihre einzelne Kraft offenbar zu schwer schienen. Herr Weller war ein Gentleman von großer Galanterie in seiner Art, und kaum hatte er diesen Umstand bemerkt, als er sich schleunigst von dem breiten Steine erhob und auf die Dame zuschritt.
»Mein liebes Kind«, sagte Sam, indem er mit großer Ehrerbietung auf sie zuschlenderte, »Sie schaden offenbar Ihrer über alle Maßen schönen Figur, wenn Sie die Teppiche allein ausstauben. Darf ich Ihnen Beistand leisten?«
Die junge Dame, die sich züchtiglich gestellt hatte, als wüßte sie nichts von der Nähe eines Gentleman, drehte sich bei dieser Anrede um – ohne Zweifel (denn sie sagte es nachher selbst), um das Anerbieten von einem ganz Unbekannten abzulehnen, aber statt zu sprechen, fuhr sie zurück und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. Sam war nicht viel weniger verblüfft, denn in dem Angesicht der wohlgestalteten Dame erblickte er die wohlbekannten Züge des hübschen Hausmädchens des Herrn Nupkins.
»Was sehe ich? meine liebe Marie«, sagte Sam.
»Ach nein, Herr Weller«, erwiderte Marie: »wie haben Sie mich erschreckt!«
Sam gab auf diese Klage keine Erwiderung mit Worten, auch können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Erwiderung er gab. Nur soviel wissen wir, daß Marie nach einer kurzen Pause sagte: »Sie Böser, Sie: lassen Sie mich doch gehen, Herr Weller«, und daß ihm sein Hut wenige Augenblicke zuvor vom Kopf gefallen war, aus welchen beiden Zeichen wir nicht abgeneigt wären zu schließen, daß einer oder mehrere Küsse vorgefallen.
»Aber wie sind Sie denn hierher gekommen?« fragte Marie, als das Gespräch, das diese Unterbrechung erlitten hatte, wieder seinen Anfang nahm.
»Bloß, um nach Ihnen zu sehen, mein Schätzchen«, erwiderte Herr Weller, der seiner Leidenschaft den Sieg über seine Wahrheitsliebe einräumte.
»Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hier bin?« fragte Marie. »Wer kann es Ihnen gesagt haben, daß ich in Ipswich zu einer andern Herrschaft ging, die dann hierher gezogen ist? Wer kann es Ihnen gesagt haben, Herr Weller?«
»Ja freilich«, sagte Sam mit pfiffigem Blick, »das ist eben die Frage: das möchten Sie gern wissen. Wer meinen Sie wohl, daß es mir gesagt habe?«
»Herr Muzzle vielleicht?« fragte Marie.
»O nein«, erwiderte Sam mit feierlichem Kopfschütteln: »Muzzle nicht.«
»Dann muß es die Köchin gewesen sein«, meinte Marie.
»Versteht sich«, sagte Sam.
»So was habe ich mein Lebtag nie gehört«, rief Marie aus.
»Ich auch nicht«, sagte Sam. »Aber meine liebste Marie« – hier wurden Sams Manieren ungemein zärtlich – »meine liebste Marie, ich habe gegenwärtig ein Geschäft, das äußerst dringend ist. Es ist da einer von meines Prinzipals Freunden – Herr Winkle – Sie erinnern sich seiner.«
»Der mit dem grünen Rock?« fragte Marie. »O ja, ich kann mir ihn noch recht gut vorstellen.«
»Nun sehen Sie«, fuhr Sam fort: »der ist schauderhaft verliebt, so daß er nimmer weiß, wo ihm der Kopf steht, und es bei ihm ordentlich rappelt.«
»Nein, aber so was!« rief Marie.
»Das wäre schon recht«, sagte Sam, »aber was hilft es, wenn wir die junge Dame nicht auffinden können?«
Nun stattete Sam unter manchen Abschweifungen über Maries persönliche Schönheit und die unaussprechlichen Qualen, die er ausgestanden, seit er sie zum letztenmal gesehen, einen getreuen Bericht über Winkles Lage ab.
»Hat man je so was gehört?« sagte Marie.
»Nein, ganz gewiß nicht«, erwiderte Sam. »Das hat noch niemand gehört und wird auch niemand hören, und ich laufe da herum wie der ewige Jude – ein komischer Kerl, von dem Sie vielleicht gehört haben, mein Schatz, der immer mit der Zeit um die Wette läuft und
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