Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
niemals schläft – und suche nach dem Fräulein Arabella Allen.«
»Was für ein Fräulein?« fragte Marie mit großem Erstaunen.
»Fräulein Arabella Allen«, wiederholte Sam.
»Ach du meine Güte«, rief Marie nach dem Gartentore hindeutend, das der griesgrämige Stallknecht hinter sich verschlossen Hütte. »Das ist ihr Haus dort, und sie ist schon seit sechs Wochen hier. Die Stütze, die zugleich das Stubenmädchen von der gnädigen Frau ist, hat es mir an einem Morgen zur Waschküche heraus gesagt, als die Herrschaft noch in den Federn war.«
»Was Sie nicht sagen! Also gerade neben Ihnen?« sagte Sam.
»Freilich, freilich«, erwiderte Marie.
Herr Weller war durch diese Nachricht so überwältigt, daß er es für unumgänglich notwendig hielt, sich mit beiden Armen auf seine schöne Auskunfterteilerin zu stützen, und erst nach verschiedenen kleinen Liebespassagen hatte er sich wieder gehörig gesammelt, um zur Hauptsache zurückzukommen.
»Wahrhaftig«, sagte Sam endlich, »wenn das nicht übers Hahnenfechten geht, so geht nichts darüber, wie der Lordmayor sagte, als der erste Staatssekretär nach dem Schmause die Gesundheit seiner Frau ausbrachte. Also gerade neben Ihrem Haus? Ich habe eine Botschaft an sie auszurichten, mit der ich mich den ganzen Tag abgequält habe.«
»Sie können sie auch jetzt nicht ausrichten«, sagte Marie, »weil sie nur abends im Garten spazierengeht, und allemal bloß ganz kurze Zeit; ausgehen tut sie gar nicht ohne die alte Dame.«
Sam sann einige Augenblicke nach und verfiel auf folgenden Operationsplan: Er wollte um die Dämmerung, zu welcher Zeit Arabella einen Tag wie den andern ihre Spaziergange machte, zurückkommen. Marie solle ihn in den Garten ihrer Herrschaft einlassen, dann wolle er, geschützt durch die überhängenden Zweige eines großen Birnbaums, unbemerkt über die Mauer klettern, seinen Auftrag ausrichten und womöglich auf den folgenden Abend um dieselbe Stunde eine Zusammenkunft zwischen dem Fräulein und Herrn Winkle einleiten. Nachdem er diesen Plan mit großer Eile auseinandergesetzt, half er Marien bei ihrem lange hinausgeschobenen Geschäft des Teppichausstäubens.
Das Teppichausstäuben ist nicht halb so unschuldig wie es aussieht – das Stäuben selbst zwar mag etwas ganz Harmloses sein, aber das Zusammenlegen ist eine sehr verfängliche Sache. Solange da» Stäuben dauert und beide Parteien auf Teppichlänge voneinander getrennt sind, ist es eine so unschuldige Ergötzlichkeit, wie man nur eine denken kann; wenn aber das Zusammenlegen beginnt und die Entfernung der Stäubenden von der Hälfte der früheren Länge zu einem Viertel, sodann zu einem Achtel, endlich zu einem Sechzehntel, und wenn der Teppich lang genug ist, zu einem Zweiunddreißigstel herabsinkt, da wird es höchst gefährlich. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie viele Teppiche im vorliegenden Falle zusammengelegt wurden, aber das können wir zu behaupten wagen, daß Sam das hübsche Mädchen sovielmal küßte, wie Teppiche da waren.
Herr Weller labte sich in der nächsten Kneipe bis es dunkel zu werden anfing und kehrte sodann in das Gäßchen ohne den Ausgang zurück. Nachdem ihn Marie in den Garten gelassen und mehrfache Ermahnungen für seine Sicherheit vor Hals- und Beinbruch erteilt hatte, kletterte Sam auf den Birnbaum, um Arabella zu erwarten.
Er mußte so lange angstvoll ausharren, daß er schon glaubte, sie werde nicht mehr kommen, als er auf einmal leichte Fußtritte auf dem Kies vernahm und bald darauf Arabella erblickte, die nachdenklich den Garten herabkam. Als sie in der Nähe des Baumes war, begann Sam, um seine Anwesenheit recht artig und zart zu erkennen zu geben, allerhand diabolische Töne auszustoßen, wie man sie etwa bei einer Person natürlich finden könnte, die von früherer Kindheit an fortwährend an Halsentzündung, Heiserkeit und Stickhusten gelitten hat.
Das Fräulein warf einen hastigen Blick nach der Stelle hin, von wo die furchtbaren Töne kamen, und ihr anfänglicher Schreck wurde keineswegs dadurch vermindert, daß sie einen Mann zwischen den Zweigen erblickte. Sie wäre gewiß entflohen und hätte Lärm im Hause gemacht: allein glücklicherweise nahm ihr die Furcht alle Kraft, sich zu rühren, und sie sank auf einen zum guten Glück dastehenden Gartenstuhl nieder.
»Sie wird ohnmächtig«, monologisierte Sam in großer Verlegenheit. »Das ist doch zu dumm, daß diese jungen Damen immer in Ohnmacht fallen wollen, wenn sie es
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