Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
solcher Stärkung verging die Nacht ebenso schnell wie angenehm. Bevor sie am Landungskai anlegten, war es Tag geworden, war die Flasche leer geworden, war der Nachbar sanft entschlummert, aber Grimaldis rechter Arm steckte noch immer im rechten,und der jungen Dame linker noch immer im linken Armloche des Seemannskittels, und des Nachbars Frau und Töchterlein hätten fideler sein können.
Am Landungskai trennten sie sich. Mann und Frau nebst Schwester und Freundin kutschierten nach Hause, während Grimaldi sich nach der Gracechurch-Straße begab, wo er sich zum Postamt verfügte, um einige Geschäfte zu erledigen.
Das Postamt war aber noch nicht offen. Müde war er noch nicht, zu Hause so früh zu stören, paßte ihm nicht, und so kam er auf den Gedanken, ein paar Stunden in der inneren Stadt, die ihm noch nicht so recht bekannt war, umherzubummeln und erst dann seine Penaten aufzusuchen.
Fünftes Kapitel
Ein wunderliches Vorkommnis. – Ein lakonisches Schreiben. – Zwei wichtige Auftritte mit Mr. Hughesund, ein spaßhafter Auftritt mit einem neidischen Freunde. – Zurüstungen zu Grimaldis Verheiratung. – Erschöpfung nach den Strapazen mit einer neuen Rolle.
Es war heller Tag geworden. Die Sonne ergoß ein mildes Licht über die stillen Straßen, in denen man nur Leute erblickte, die zu Wasser oder zu Lande gekommen waren. Obwohl Grimaldi von Kindesbeinen an in London gelebt hatte, war ihm doch weit weniger davon bekannt als vielen Nichtlondonern, die die Hauptstadt nur einige Male besucht haben. So hatte er den Stadtteil, wo er sich jetzt befand, samt dem Tower, noch nie gesehen.
Seine Aufmerksamkeit wurde, da ihm alles neu war, durch tausenderlei Dinge fortwährend und aufs angenehmste beschäftigt.
Da fiel sein Auge plötzlich auf einen am Boden liegenden Gegenstand. Er stieß mit dem Fuße daran,und es klimperte. Da bückte er sich und erkannte nun in dem von Schmutz bedeckten Gegenstande eine große, mit Goldstücken gespickt volle Netzbörse.
Wie gelähmt von dem Anblick, sah er fortwährend vor sich, hin, ohne daß er sich getraute, die Börse anzurühren. Endlich konnte er sich aber nicht mehr beherrschen, guckte sich nach allen Seiten um, und nahm, als er sich unbemerkt und allein sah, die Börse in die Tasche.
Kaum aber bückte er sich, so fiel ihm ein zweiter Gegenstand in die Augen: ein dünnes Päckchen Papier. Auch das hob er mechanisch auf, und wer vermöchte sein Erstaunen zu schildern, als er, es untersuchend, wahrnahm, daß es einzig aus Banknoten bestand?
Noch immer war niemand zu sehen. Nicht einmal kommen hörte man jemand. Grimaldi ging in der Straße eine ganze Stunde hin und her, faßte jeden, der an ihm vorbeiging, scharf ins Auge, so scharf, daß jeder hätte meinen müssen, er wolle um etwas fragen, wolle fragen, ob jemand etwas verloren habe…
Aber nein! Niemand suchte oder fragte, oder gab durch irgend ein Anzeichen Unruhe oder Ärgernis zu erkennen.
So kehrte er, ohne jemand zu fragen, von dem sich hätte annehmen lassen, daß er die Grimaldis Meinung nach unermeßliche Summe verloren haben könne, schließlich langsam nach dem Postamte zurück.
Die ganze Zeit über und noch stundenlang nachher befand er sich in einer fast unbeschreiblichen Unruhe, war es ihm doch nicht anders zu Mute, als ob er einen schrecklichen Diebstahl begangen hätte, der alle Augenblicke entdeckt und schimpflich bestraft werden würde. Er zitterte dermaßen, daß er kaum gehen konnte. Das Herz hämmerte ihm förmlich, und Angstschweiß trat ihm aufs Gesicht.Je länger er über seine Lage sann, desto größer wurde seine Unruhe und seine Besorgnis. Wer würde, wenn man soviel Geld bei ihm fände, glauben wollen, daß er es gefunden hätte? Mußte es nicht all und jedem viel wahrscheinlicher vorkommen, daß er es entwendet habe? Und wenn er des Diebstahls angeklagt würde, durch welches Zeugnis könnte er sich rechtfertigen?
Mehr denn einmal fühlte er sich versucht, seinen Fund wegzuwerfen und auf und davon zu rennen, und nur durch die Besorgnis, daß er gesehen werden, daß er verhehlt werden könne, daß er so verwirrte Antworten geben könnte, daß man erst daraufhin die Anklage wegen Diebstahls gegen ihn erheben möchte, bestimmte ihn, diesen Einfall nicht zu verwirklichen. Nun sollte man aber meinen, es sei doch ein großes Glück, eine stattliche Summe Geldes zu finden; bei Grimaldi war dies aber keineswegs der Fall, er fühlte sich im Gegenteil kreuzunglücklich darüber und
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