Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen durchaus beistimmten.
Es war die Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen in die Laube zu begeben, die dem Leser bereits durch Herrn Tupmans zärtliches Abenteuer bekannt ist. Zu diesem Ende mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Frau einen dicht anschließenden schwarzen Atlashut, einen warmen baumwollenen Schal und einen starken Stock mit einem großen Handgriff holen, und nachdem sie sich so behaglich eingehüllt und die eine Hand auf den Stock, die andere auf die Schulter des fetten Jungen gestützt hatte, begann sie mit Muße ihren Spaziergang nach der Laube, wo sie der fette Diener für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genusse frischer Luft verbunden sind, überließ. Nach Ablauf dieser Frist kam er sodann wieder, um die Mutter seines Gebieters ins Haus zurückzuführen.
Die alte Dame ging in diesen Dingen nicht von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander ohne ein Abweichen von der Regel geübt worden, so war sie nicht wenig überrascht, als sie bemerkte, daß der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich sorgfältig nach allen Richtungen umsah, und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.
Die alte Dame war furchtsam – wie es die meisten alten Damen sind – und so kam sie gleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schild, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft des Schweigens benommen hätte. Deshalb mußte sie sich begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herankam und mit einem – wie es ihr schien – drohenden Tone ins Ohr schrie:
»Madame!«
Nun fügte sich’s gerade, daß in demselben Augenblick Herr Jingle in dem Garten spazierenging und sich zur Zeit in der unmittelbaren Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – einmal, weil er nichts anderes zu tun hatte, dann weil seine Neugier kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt – er machte halt und horchte.
»Madame!« schrie der fette Junge.
»Ach, Joe,« sagte die zitternde alte Dame, »ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich stets aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten müssen und doch immer genug zu essen gehabt.«
Das war eine Berufung auf Joes empfindsamste Gemütsseite. Er schien gerührt und entgegnete mit Nachdruck:
»Ich verkenne das nicht.«
»Was kannst du aber weiter von mir wollen?« versetzte die alte Dame etwas ermutigt.
»Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich’s Ihnen sage«, erwiderte Joe.
Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankeserguß, und da die alte Dame die Art, wie ein solches Phänomen herbeigeführt werden könnte, nicht ganz begriff, so kehrten alle ihre Schrecken wieder.
»Was meinen Sie wohl, was ich gestern hier in dieser Laube gesehen habe?« sagte der Junge.
»Barmherziger Himmel! Was!« rief die alte Dame, beunruhigt durch die Wichtigtuerei in dem Benehmen des wohlbeleibten Burschen.
»Der fremde Herr – der mit dem zerschossenen Arm – hat geküßt und umarmt – –«
»Wen, Joe – wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?«
»Schlimmer als das!« brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.
»Wie, gar eine meiner Enkelinnen?«
»Noch schlimmer!«
»Noch schlimmer, Joe?« versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Non plus ultra männlicher Verwegenheit betrachtete. »Wer ist’s gewesen, Joe? Ich will es durchaus wissen.«
»Fräulein Rachel.«
»Was?« schrie die Dame in schrillem Tone. »Sprich lauter.«
»Fräulein Rachel«, schrie der fette Junge.
»Meine Tochter?«
Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine gedunsenen Backen wie Gallerte schwabbelten.
»Und sie ließ sich’s gefallen?« rief die alte Dame.
Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen, als er erwiderte:
»Ich sah es, wie sie ihn wieder küßte.«
Hätte Herr Jingle in
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