Dem Himmel entgegen
sich auf die Unterlippe, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Richtung Küche. Dort griff sie nach dem Eimer mit dem Seifenwasser, ließ sich auf die Knie fallen und begann inbrünstig, den Boden zu schrubben. Sie war Kinderkrankenschwester, sagte sie sich selbst, während sie sich mit aller Kraft dem Fußboden widmete. Marion war einfach überwältigt von den Veränderungen, die in ihrem Leben vor sich gingen. All ihre Ängste vor Krankenhäusern, Krankheiten und Spritzen, verbunden mit der Unsicherheit der neuen Pflegerin und dem völlig veränderten Tagesablauf gegenüber waren einfach zu viel für sie. Und wer konnte ihr das verübeln? Sie musste mindestens sechs Spritzen pro Tag über sich ergehen lassen!
Ella erinnerte sich, dass sie über die vielen Jahre, in denen sie im Hospital gearbeitet hatte, schon oft mit den Wutausbrüchen von kranken Kindern hatte umgehen müssen. Manche der kleinen Patienten schrieen sich so in Rage, dass sie sich übergeben mussten. Andere hielten den Atem an, bis sie blau anliefen oder in Ohnmacht fielen. Die meisten Menschen ahnten nicht, dass die Tobsuchtsanfälle für die Kinder selbst am schlimmsten waren. Die unkontrollierbare Kraft ihrer eigenen Wut erschreckte sie. Als Kinderkrankenschwester hatte Ella immer wieder die Fähigkeit gezeigt, solche Patienten zu beruhigen oder dabei zu helfen, dass die Anfälle langsam nachließen, um schließlich ganz aufzuhören.
Doch Marions Wutausbrüche mehrten sich, kamen häufiger, nicht seltener. Ella hielt inne und setzte sich auf die Fersen, während das Putzwasser ihre Oberschenkel hinuntertropfte. Was machte sie falsch? fragte sie sich, und die Schreie des Kindes hallten in ihrem Kopf wider. War sie zu streng? War der neue Tagesablauf zu straff geplant? Sie war ja erst seit kurzem hier … Vielleicht hatte sie zu früh damit begonnen, die Dinge einzuschränken, die Marion so gerne tat. Vielleicht hatte sie mit dem Kind einen Kampf begonnen, den Marion nur verlieren konnte.
Ella schloss die Augen und lauschte den herzzerreißenden, verzweifelten Schreien, die aus dem Nebenzimmer zu ihr drangen. Sie ließ die Schultern hängen und spürte, wie ihr Selbstvertrauen, den Schaumbläschen in dem Seifenwasser neben sich gleich, zerplatzte. Vielleicht bin ich dieser Aufgabe nicht gewachsen, dachte sie verzweifelt. Sie hatte, stolz auf sich selbst, erzählt, wie sie ihre Abteilung unter Kontrolle hatte – aber dies hier war kein Krankenhaus, schalt sie sich selbst. Und dies war keine Erwachsene. Sie war zu taktlos gewesen, zu unnachgiebig bei der täglichen Versorgung eines Kleinkindes.
“
Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärest niemals hierher gekommen!”
Sie ließ den Schwamm in den Eimer fallen und schlug hilflos die Hände vor ihr Gesicht, eingehüllt und überwältigt vom Weinen und von ihrem eigenen Versagen. Sie hörte nicht, wie die Eingangstür geöffnet wurde und wie sich Schritte näherten. Als sich unvermittelt eine starke Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie zusammen. Sie atmete tief ein und sah dann erschrocken nach oben.
Harris kniete sich zu ihr auf den Boden. Sie nahm den Duft seiner Lederjacke wahr. Er blickte nicht verärgert, wie er es beim ersten Mal getan hatte, als seine Tochter wie am Spieß geschrieen hatte. Stattdessen bemerkte sie Mitgefühl in seinen Zügen.
Sie schluchzte auf und wischte sich die verräterischen Tränen aus den Augen. “Ich habe Sie nicht kommen gehört.”
“Und, wie läuft es?”
Ella lachte trocken auf und starrte auf ihre Hände. “Nicht so gut, wie Sie sehen.”
“Es war ein harter, anstrengender Morgen, stimmt’s? Ich warne Sie – das kann stundenlang so weitergehen.”
“Der Himmel steh mir bei …”
“Ich habe Ohrstöpsel in meiner Schreibtischschublade. Die wirken wahre Wunder.”
Ihre Blicke trafen sich, und sie tauschten ein mitfühlendes Lächeln.
“Wie haben Sie das so lange ertragen?”
“Habe ich nicht. Ich habe doch Sie eingestellt.”
Ihr Lachen durchbrach die Spannung, und das Geschrei schien in weite Ferne zu rücken.
“Ich dachte gerade, dass es unter Umständen vielleicht ein Fehler war, mich einzustellen.” Ihre Hände verkrampften sich. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich zu sehr geöffnet und zu viel preisgegeben zu haben.
“Was ist passiert?”
“Ich habe den Fernseher ausgestöpselt.”
Er zog eine Grimasse.
“Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will Marion nicht bestrafen. Ich möchte nur, dass sie mal
spielt
.
Weitere Kostenlose Bücher