Dem Himmel entgegen
Sie kann doch nicht einfach herumsitzen und den ganzen Tag fernsehen. Aber … vielleicht war ich zu unsensibel. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich ihr immer nur sage, was sie zu tun hat, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sie Recht hat. Zu viele
’Tu dies!’
und
’Lass das!’
können einen Wutausbruch hervorrufen.”
“Nein, es ist nicht Ihre Schuld. Eigentlich hatte sie nie solche Anfälle. Alles hat erst angefangen, als sie aus dem Krankenhaus zurückkehrte. Ich denke, ich bin schuld daran. Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben.”
“Hören Sie uns nur zu. Wir wollen beide auf Teufel komm raus die Schuld auf uns nehmen.” Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Langsam kehrte ihre innere Ausgeglichenheit zurück. Sie konnte wieder klar denken. “Es scheint so zu sein, dass Marion in der Klinik versucht hat, ein braves Kind zu sein. Als sie dann wieder nach Hause kam, auf sicheres und bekanntes Terrain sozusagen, fühlte sie sich geschützt genug, um all ihre Wut rauszulassen. Und sie wollte Sie natürlich bestrafen, denn Sie haben sie ja in diese Situation gebracht. Kinder denken nicht logisch, wissen Sie? Vielmehr testen sie systematisch Ihre Grenzen aus. Als sie bemerkte, wie effektiv die Wutausbrüche waren, war sie schlau genug, sie gezielt einzusetzen. Kinder machen solche Dinge andauernd, unsere kleinen Lieblinge.” Sie seufzte und dachte nach. “Und meinetwegen … Sie ist aufgeregt und verspürt Angst, weil sich alles geändert hat. Aber ich tue das Richtige”, sagte sie mit Überzeugung. “Ich weiß es.”
Sie sah auf. Er war ihr so nah und hörte gespannt zu. Sein Haar war zerzaust und ungekämmt, und sie dachte, seine Augen wären von dem strahlendsten Blau, das sie je gesehen hatte.
“Danke”, sagte sie.
“Wofür?”
“Für Ihre Unterstützung. Das habe ich im Moment wirklich gebraucht. Ich denke, es geht mir jetzt wieder gut.”
Er lächelte, und seine Augen funkelten. “Gern geschehen. Schließlich haben Sie mir auch schon geholfen.” Er stand auf und trat einen Schritt zurück. Der Moment war verflogen. “Dann räume ich jetzt das Feld und lasse Sie Ihre Arbeit tun. Ich bin eigentlich auch nur vorbeigekommen, weil ich das chaotische Geschrei gehört habe. Wollte nur schnell sehen, ob Sie noch leben.” Sein Grinsen wurde breiter, als sie auflachte. “Und vergessen Sie nicht – die Ohrstöpsel sind in der obersten Schublade meines Schreibtisches.” Er drehte sich um und verschwand durch die Hintertür.
Sämtliches Geschirr, alle Töpfe, Pfannen und die sonstigen Kochutensilien lagen auf Trockentüchern auf dem Boden verteilt, während Ella die letzten Schränke auswusch. Plötzlich hielt sie inne, das Geschrei hatte aufgehört. Sie zog ihren Kopf aus der Tiefe des hölzernen Schrankes, atmete die kühle, frische Luft ein und hob die Hände, um die Stöpsel aus ihren Ohren zu holen. Im Haus war es herrlich still. Zu still, wenn sie ehrlich war. Ich sollte besser gehen, um nach Marion zu sehen, dachte sie bei sich. Vielleicht war sie vor lauter Erschöpfung auf dem Sofa eingeschlafen.
Als sie sich umdrehte, war sie erstaunt, Marion in der Tür stehen zu sehen. Sie schaute verlegen zu Ella hinüber. Ihr Haar war tränenverschmiert, ihre Augen rot und geschwollen. Angst, Erwartung und das Gefühl der Niederlage lagen in der Luft. Ella war zutiefst gerührt. Sie wusste, dass dies ein kritischer Moment war. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können, also ließ sie ihr Herz sprechen. Stumm streckte sie die Arme aus. Marions Unterlippe bebte unsicher, dann schluchzte sie laut auf, rannte durch die Küche und warf sich in Ellas offene Arme. Ella nahm sie sanft auf ihren Schoß, zog sie an sich und wiegte sich leicht vor und zurück. Immer wieder flüsterte sie, dass alles gut werden würde und was für ein liebes Kind sie sei. Zum ersten Mal ließ sie Marion wissen, wie sehr sie sie in ihr Herz geschlossen hatte. Marion klammerte sich fest an sie und weinte. Sie suchte nach Halt.
Ella hielt sie in ihren Armen und schwor sich, dass sie von nun an der sichere Halt für dieses Kind sein wollte, das ohne Mutter aufwachsen musste. Sie liebte Marion, als wäre sie ihre eigene Tochter. Während sie leise und beruhigend summte und sie vor und zurück wiegte, ignorierte sie die warnende Stimme in ihrem Kopf, die sie daran erinnerte, dass sie vorsichtig sein musste. Marion war nicht ihr Kind, und die Götter hatten davor gewarnt, mit dem Feuer zu spielen.
Der restliche
Weitere Kostenlose Bücher