Dem Himmel entgegen
wieder herausholten – und das war bei den heranwachsenden, immer hungrigen Waisen einige Male pro Tag erforderlich.
Insgeheim jedoch hüpfte Ellas Herz, wenn ein Waisenkind gebracht wurde. Sie arbeitete nun schon seit einigen Wochen in der Klinik, doch jedes Mal, wenn sie so ein kleines Tier mit seinem viel zu großen Kopf und den viel zu großen Füßen sah, wie es sich Schutz suchend auf den Boden drückte und sie mit seinen unschuldigen Augen ansah, spürte sie mütterliche Gefühle in sich aufwallen, die alle rationalen Gedanken zunichte machen konnten. Und wenn sie anfingen zu fiepen, wenn sie an ihre Käfige trat, wurde sie ganz weich und sentimental. Das würde sie vor Harris natürlich
nie
zugeben. Er stöhnte jedes Mal, wenn wieder ein Waisenkind eingeliefert wurde. Vom Verstand her war sie selbstverständlich seiner Meinung. Aber dies war wieder ein typischer Fall, in dem ihr Verstand und ihr Herz sich einen Kampf lieferten.
Später an jenem Morgen, als sie die Transportbox öffnete und zwei der unbeholfensten, verlorensten und einsamsten Vögel entdeckte, die sie je gesehen hatte, hielt sie einen Augenblick inne.
“Geier?” fragte sie zweifelnd. “Aber das sind doch eigentlich keine Greifvögel.”
“Nein, aber wir nehmen sie trotzdem an.” Maggie kam näher und zog sich währenddessen leichte Handschuhe über. Sie beugte sich über die Box, um besser hineinsehen zu können. “Oh, meine Güte, sieh dir die Kleinen an. Sie sind so jung! Sie können nicht älter als zwei oder drei Wochen sein!”
“Arme Babies”, sagte Ella beruhigend. Sie beugte sich näher heran. “Wo ist denn eure Mommy geblieben?”
“Eine traurige Geschichte”, erwiderte Maggie. “Ihre Eltern wurden von Hunden angefallen.”
“Das verstehe ich nicht. Wie konnten die Hunde beide Eltern erwischen? Hat der Wind das Nest auf den Boden geweht?”
“Geier brüten auf dem Boden, manchmal auch in alten verlassenen Gebäuden. Aber manchmal ist tatsächlich der Wind schuld. Kennst du das Fischadler-Baby in Voliere 8? Jemand sah, wie das Nest einen Fluss hinunterschwamm, während der Nestling drinsaß. Ehrlich. Er trieb auf einen Wasserfall zu.” Sie gluckste vor Lachen. “Wir nennen ihn Huck Finn – aber erzählen Sie das bloß nicht Harris. Er hält nichts davon, den Tieren Namen zu geben.”
“Das Nest fiel einfach so ins Wasser?”
“Ja, zum Glück hat es jemand entdeckt, bevor es untergegangen ist. Was so traurig ist, ist, dass wir nicht wissen, was mit dem anderen Nestling passiert ist. Wir können es uns nur denken. Es ist brutal und hart, als Greifvogel aufzuwachsen.”
Maggie beugte sich über die Box, um vorsichtig einen der Geier zu greifen und ihn herauszuheben. Wie Harris bewegte sich Maggie im Umgang mit den Tieren langsam und überlegt. Trotzdem drückten sich die Nestlinge in der Box auf den Boden und begannen zu zischen.
Ella trat zur Seite, um Maggie Platz zu machen. Sie trug den Nestling zum Behandlungstisch. Wenn man ihn falsch anfasste oder er Angst bekam und anfing zu flattern, konnten die zarten Knochen und die Strukturen der Federn leicht brechen. Maggie hatte viel mehr Erfahrung im Umgang mit Vögeln als Ella, also ließ Ella ihr den Vortritt. Maggie legte den Nestling in eine Schale, die mit Tüchern ausgeschlagen war, um ihn zu wiegen, doch bevor sie ihn mit den Tüchern zudeckte, rief sie Ella zu sich.
“Schauen Sie”, sagte sie und hob den Flügel des Tieres vorsichtig an. “Die Federn entwickeln sich langsam, das ist gut. Wenn sie so jung sind, wie diese hier, machen sie fast nichts außer fressen, schlafen und sich unter ihrer Mutter verstecken. Dann haben sie eine bessere Chance zu überleben. Okay, mein Kleiner, jetzt wollen wir dich mal untersuchen.”
Zusammen wogen sie die Waisen, untersuchten die Augen, Federn und das Blut und stellten zu ihrer Erleichterung fest, dass die Tiere für ihr Alter in sehr guter Verfassung waren. Während Maggie die Vögel hielt, schlüpfte Ella in die Schutzkleidung und fütterte die beiden mit klein geschnittenen, gehäuteten Mäusen. Mit einer Zange stieß sie sanft mit dem Fleischstückchen gegen den Schnabel der Winzlinge, wie die Mutter es auch tun würde. Der Vogel öffnete immer und immer wieder den Schnabel und fraß gierig. Schließlich waren beide Geier satt und lagen gewärmt von einer Lampe zufrieden in einem Käfig.
“Sehen Sie sich die beiden an”, sagte Ella und schüttelte beim Blick auf die Babygeier den Kopf. Die Kleinen
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