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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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zur Realität der Ehe in moderner Zeit , in der die Gefühle häufig abhandenkommen. Zerbrach in vormoderner Zeit das Gefühl an der Norm, die Vorrang hatte, so in moderner Zeit die Norm am Gefühl, das kommt und geht, wie es will. Wie eine Beschwörung klingt, was der Soziologe Georg Simmel 1908 über »Die Gesellschaft zu zweien« sagt: »Was auch die Ehe sein mag, sie ist immer und überall mehr als der sexuelle Verkehr« ( Individualismus der modernen Zeit , Sammelband, 2008, 157). In der Realität aber ist sie oft weniger, kenntlich an deprimierten Frauen, die in der Abspeisung ihrer Männer mit Essen und Sex keine Erfüllung finden, und deprimierten Männern, die im Zwang zur materiellen Versorgung ihrer Familien keinen Lebenszweck sehen (Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900 , 2004).Während Männer sich, wenn möglich, in außereheliche Beziehungen flüchten, haben Frauen dazu weniger Gelegenheit: Selbst im 20. Jahrhundert sind sie noch lange ans Haus gebunden, die Ehe wird für sie zur Endstation Sehnsucht , ungeschönt dargestellt im 1947 uraufgeführten, 1951 verfilmten Drama A Streetcar Named Desire von Tennessee Williams.
    Aus guten Gründen wird der Prozess der fortschreitenden Moderne von immer neuen Aufständen gegen die Ehe begleitet, von der Lebensreformbewegung des Monte Veritá bis zur Bewegung der sexuellen Befreiung und darüber hinaus. Die augenblickliche Aufwallung der Gefühle erscheint auch dann, wenn sie nicht vorhält, weit attraktiver als die eheliche »Pflicht zur Lebensgemeinschaft«. Die lustvoll gelebte Sexualität steht gegen die lustlose Erfüllung »ehelicher Pflichten«. In die freie Liebe soll sich keine Kirche, kein Staat, keine Gesellschaft mehr einmischen. Zusammengekommen aufgrund freier Wahl, hält moderne Individuen nichts mehr davon ab, sich jederzeit auch wieder voneinander zu befreien, sobald ihnen danach zumute ist. Freiheit ist, den Anderen wieder los zu sein, mit dem man mal so innig verbunden war. Die bürgerliche Gesetzgebung gibt schließlich nach und ermöglicht für die formelle Ehe die Abwahl so rasch wie die Wahl, nichts leichter als sich zu trennen, und so trennen sich zwei auch weit eher voneinander als von ihrer romantischen Idee der Ehe.
    Ist die Ehe also zu einer sinnlosen Institution geworden? Kann sie »mit einem neuen Sinn versehen werden« (Marie-Odile Métral, Die Ehe – Analyse einer Institution , 1981, 19)? Niemand bedarf noch einer Ehe, um auf staatlich anerkannte Weise sein Begehren zu bändigen. Niemand muss heiraten, um vorzeitige Früchte der Liebe zu legitimieren. Der Sinn der Ehe ist nicht mehr aus früheren Vorgaben zu beziehen, vielmehrwird es zur Aufgabe der Beteiligten selbst, ihr Sinn zu geben, mit ihr wiederum dem Leben: Beispielsweise, um im Anderssein , das einer für den Anderen ist, eine größere Spannweite des Lebens zu erfahren, sich wechselseitig eine Ressource , eine immer neue Quelle von Kraft zu sein, ein Schutz , um mit den Stärken des Einen die Schwächen des Anderen abzuschirmen, ein Ansporn , um sich weiterzuentwickeln und Dinge gemeinsam zu verwirklichen, ein Ärgernis , um negative Energien beieinander loszuwerden, ein Anlass zu Auseinandersetzungen , die den eigenen Kern berühren und ihn damit spürbar machen, eine frei gewählte Schicksalsgemeinschaft , um den Weg durchs Leben nicht allein zu gehen. Sogar der Spötter Honoré de Balzac sah in dem Vorgang, dass zwei Wesen sich zusammentun, um gemeinsam die Schwierigkeiten des Lebens zu bewältigen, »etwas Rührendes« ( Physiologie der Eh e, 1829, »Der Gegenstand«).
    Lange Zeit in der Geschichte war in Form von Normen vorgegeben, was Ehe ist. Nie in der Geschichte mussten Menschen lernen, sich individuell selbst Formen zu geben, etwa mit einer Ethik der Ehe , um selbst die Werte festzulegen, an denen sie ihre Lebensführung orientieren können, und mit einer ehelichen Lebenskunst sie auch zu realisieren. In der Zeit ihrer größten Gefährdung wird die Ehe endgültig zur gewagten Lebensform , zum Experiment, befreit von Vorgaben der Religion (wie Gott es den Menschen befiehlt), der Tradition (wie es immer schon gemacht worden ist), der Konvention (wie alle es machen), und der Natur (die den Menschen die Fortpflanzung auferlegt hat).
    Eine andersmoderne Idee der Ehe kann sich daran versuchen, Romantik und Pragmatik besser miteinander zu vereinbaren, um romantische Vorstellungen und die Realität der Ehe nicht weiter auseinanderdriften zu lassen.

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