Dem Leben Sinn geben
verlieren, kann von nun an eine bestehende Definition in Frage gestellt und eine Veränderung zum Besseren angestrebt werden. Die ideale Vorstellung nimmt Einfluss auf die reale Rollenverteilung: Lange nach Sokrates präsentiert ein weiterer Philosoph, Plutarch, im 1. Jahrhundert n. Chr. in seiner Schrift Erotikos die revolutionäre Idee einer Ehe, die auf charis , Freude und Wohlwollen, beruht. Anders als Sokrates konnte er mit seiner Frau ein solches Verständnis der Ehe wohl auch verwirklichen, in der außerdem das erotische Begehren mitsamt Befriedigung beheimatetsein kann, denn »Eros ohne Aphrodite ist wie ein Rausch ohne Wein« ( Moralia , 752 b; Auswahlband Die Kunst zu leben , 2000).
Just zur selben Zeit gewinnt die christliche Idee der Ehe Konturen, die auf ihre Weise eine stärkere Einbindung der Lüste erreichen will, wenngleich mit ganz anderer Begründung: Jeder Mann solle eine Ehefrau, jede Frau einen Ehemann haben, um »Unzuchtsünden zu vermeiden«, formuliert Paulus im ersten Korintherbrief . Grundsätzlich tue ein Mann gut daran, keine Frau zu berühren; aber wenn ihm die Kraft zur Enthaltsamkeit fehle, solle er lieber heiraten. Und um keine Zweifel über die innerehelichen Verhältnisse aufkommen zu lassen, stellt Paulus im Epheserbrief klar, dass jeder Mann seine Frau genauso liebhaben solle wie sich selbst, »die Frau aber fürchte den Mann«.
Die Ausführungsbestimmungen dazu entwirft der Kirchenvater Clemens von Alexandrien im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinem viel gelesenen Buch Paidagogos , in dem er zugesteht, dass beide Geschlechter Kinder Gottes seien. Bei der Frau aber, der Nachfolgerin der Eva, die Adam verführte, müsse »schon das Bewusstsein des eigenen Wesens Schamgefühl hervorrufen«. Den ehelichen Akt zu vollziehen, sei legitim, aber nur »auf geordnete Weise« ( kosmios , II, 33, 5), um eine »Enthüllung des Körpers« und »sinnlose Töne« zu vermeiden. Es sei kein Problem, die an der körperlichen Vereinigung ( synousia ) beteiligten Glieder beim Namen zu nennen, die zwar des Schamgefühls würdig, aber »keine Schande« seien. Hässlich sei allein der unsachgemäße Gebrauch der Glieder, der den Samen auf »naturwidrige Wege« bringe.
Im Laufe der Geschichte machten sich jedoch in der Christenheit selbst wieder Zustände der wilden Ehe breit, im Klerus wurde die geforderte Ehelosigkeit vom Dorfpfarrer biszum Papst untergraben (Ludwig Schmugge, Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst , 2008). Ein Anliegen der Reformation im 16. Jahrhundert war folgerichtig die Reformulierung der christlichen Idee der Ehe: Martin Luther sah ihren gottgegebenen Zweck weiterhin in der Zeugung, legitimierte aber das Gefühl der Liebe als Grund der Ehe gegen die von Eltern arrangierte Zwangsehe ( Vom ehelichen Leben , 1522). Für die neuzeitliche Idee der Ehe spielten Gefühle dennoch keine tragende Rolle: Die standesgemäße Vernunftehe diente neben der Fortpflanzung der materiellen Absicherung und dem sozialen Aufstieg der Ehepartner, der Wahrung und Mehrung ihres Besitzstandes. Zeugungsakte waren Pflicht, bahnte sich aber in den oft freudlosen Ehen das sexuelle Begehren des Mannes andere Wege, durfte er in der sozialen Umwelt auf eine Nachsicht hoffen, die seiner Frau nicht zuteilwurde. Für weitere Jahrhunderte war die Ehe keine selbstbestimmte Angelegenheit der Beteiligten, sondern eine fremdbestimmte der familiären Heiratspolitik, kirchlich als »Wille Gottes« abgesegnet.
Dermaßen weltlich war diese Beziehung, dass konsequenterweise die Idee entstand, sie von religiösen Bezügen gänzlich abzulösen. Auf die entsprechende Diskussion über die Ehe als bürgerlicher Rechtsform , die keiner kirchlichen Legitimation mehr bedarf, bezog sich Immanuel Kants folgenreicher Aufsatz von 1784, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«. Weit über den unmittelbaren Anlass hinaus forderte Kant jeden und jede (»das ganze schöne Geschlecht«) zur Eigenverantwortung auf: Niemand solle sich weiterhin auf das berufen, was Seelsorger und Andere für richtig halten. Einen Beitrag zur Aufklärung der besonderen Art leistete auch seine berühmt-berüchtigte Definition der Ehe als Verbindung zweier Personen »zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« ( Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre , § 24). Mit den Geschlechtseigenschaften war nicht zuletzt die Sexualität gemeint, für die ausgerechnet Kant, der Junggeselle, ungewöhnlich für seine
Weitere Kostenlose Bücher