Engpass
1. Kapitel
Elsa lenkt den Wagen die einsame Landstraße entlang.
Das Problem sitzt hinten. Zwischen hochgezogenen Brauen, die ihre hellblauen Augen überdachen, hat sich eine Falte in das Gesicht der 15-jährigen Anna gegraben. Die Lippen streng aufeinandergepresst, ziehen und zerren die Finger des Mädchens, drücken Wut und Verzweiflung hin und her.
Als sich die ersten Bergspitzen hinter der Kurve zeigen, knackt Annas Daumenknochen aus Protest auf.
Elsa schluckt einen Kommentar hinunter. Gerade noch. Konzentriert hält sie ihren Blick auf die Fahrbahn gerichtet.
Tiefes Schweigen zwischen ihr und Anna.
Die Landschaft zeigt drei Farben. Grün. Braun. Grau. Und der lichte Himmel darüber.
»Wir werden es uns schön machen«, verspricht Elsa in Annas Gedanken hinein. Ihre Stimme klingt optimistisch. Anna entscheidet sich, stumm zu bleiben, verdrängt eine leise Ahnung von Verständnis.
In Elsas Kopf überschlagen sich die Gedanken. Sie hat ihren Mann verlassen. Fort von zu Hause. Anna zieht die Stirn erneut in Falten. Niemand hat sie ernsthaft gefragt, ob sie weg will aus Köln. In die Provinz, nach Bayern. Tiefstes Land.
»Wir haben doch gar kein Geld für ein Haus im Süden«, versuchte Anna Elsa anfangs zu überzeugen.
»Ich hab was gespart«, entgegnete Elsa ruhig.
»Hast du schon die Scheidung eingereicht?«
»Mach ich morgen.«
»Wieso denn?«
Schweigen.
»Er liebt sie doch gar nicht.«
»Darum geht es nicht.«
»Er liebt dich!«
Elsa stockte. Warum schaffte Anna es jedes Mal mit Leichtigkeit, die bittere Gegenwart hervorzuzerren, vehement und gnadenlos? Zwei Frauen und ein Mann. Zu viel Abwechslung für neun Jahre Ehe.
Anna denkt an Lars. Vor zwei Monaten hat sie ihn kennengelernt. Beim Tanzen in Köln. Heillos verliebt ist Anna seitdem.
Elsas Handy meldet sich.
»Willst du nicht rangehen? Sicher ist es Papa.«
Elsa versucht, gelassen zu bleiben.
»Gib’s mir.« Anna will nach Elsas Handy greifen.
Jetzt legt Elsa bestimmend ihre Hand aufs Telefon.
»Er will sich mit dir aussprechen.«
Elsa bleibt stumm und Anna gibt auf.
Donnert mit ihren Boots verzweifelt gegen den Rücksitz anstatt weiterzusprechen. Das Handy hat aufgehört zu läuten. Elsa reißt sich zusammen. Sie wird Annas Reaktion vergessen, so lange, bis sie es wirklich kann.
Dann sind sie da. Elsa sieht das große Schild mit dem schwarz-weiß gezeichneten Haus drauf. Frisch fertiggestellt. Wie in der Annonce beschrieben.
»Da ist es!«, ruft Elsa mit vibrierender Stimme und stoppt den Wagen. Sie steigt aus und verschränkt die Arme hinterm Nacken, atmet tief die würzige Landluft ein und platziert sich schließlich neben das Schild.
Anna ist an der Seite ihrer Mutter erschienen.
»Ach, Anna!« Elsa schaut ihre Tochter versöhnlich an.
»Wie lange es wohl dauern wird, bis wir all das hinter uns haben?«, meint Anna nur.
Der Mann lehnt sich gemächlich in seinen Bürostuhl.
»Warum wollen Sie bei uns, in Traunstein, anheuern? Ausgerechnet in dieser Einöde?«, will er von Elsa wissen.
»Private Gründe.« Elsas Blick macht deutlich, dass er nicht weiterfragen soll, sie wird ihm ohnehin nichts sagen.
»Private Gründe«, wiederholt der Mann und starrt wieder in die Mappe vor sich.
»Ich muss das fragen«, fängt er erneut an. »Ihre Referenzen und die sensationelle Erfolgsquote geben mir Rätsel auf, was Sie hier bei uns zu suchen haben.« Der Mann beginnt, am Reißverschluss seiner Jacke herumzuspielen.
»Geben Sie sich einfach damit zufrieden, dass ich hier bin«, meint Elsa kurz angebunden.
»Und was ist, wenn ich möchte, dass Sie bleiben? Was nützt es mir, wenn’s Ihnen langweilig wird? Das ist Land hier. Tiefes Land.«
»Gibt’s hier keine Menschen?« Elsa schaut ihm zwischen die Augen. »Wo Menschen sind, finden Verbrechen statt.«
Einen Moment zögert er. Einen kurzen Moment, der kaum Gelegenheit zum Atmen lässt.
»Ich gebe mich geschlagen.« Er hält ihr die Hand hin.
Zögernd schlägt Elsa ein.
»Willkommen in Oberbayern, Frau Kollegin!« Karl Degenwald lächelt unmerklich.
Elsa sagt nichts weiter, dreht sich um und geht.
Anna hat Abendbrot gemacht.
Einen Tisch und eine Bank im Esszimmer gibt es schon. Und Betten im ersten Stock. Ansonsten ist das Haus unmöbliert.
»Warum gleich für immer dableiben?«, will Anna wissen. »Reicht nicht erst mal ’ne Probezeit?«
Elsa ignoriert Annas Vorschlag. »Wir können uns vor Ort die Möbel aussuchen. Du kannst dein Zimmer
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