Dem Leben Sinn geben
hatte. Was beide veranlasste, offizielle Ehen mit Anderen zu schließen, selbst aber eine heimliche Ehe miteinander zu führen, behielten sie für sich. Vielleicht trauten sie ihren Gefühlen nicht, oder sie hielten es für ihre Pflicht, der Vernunft zu folgen, jedenfalls der Vernunft dessen, was ihre Familien für richtig hielten. Nun, nach so langer Zeit, war ihre Liebesehe kein Risiko mehr: Wie sich ein Zusammenleben pragmatisch einrichten lässt, das die Romantik zu bewahren versteht, musste ihnen niemand mehr erklären.
In der Geschichte der Ehe , die eng mit der Menschheitsgeschichte verwoben ist, spielte die formelle Ehe lange keine Rolle. Prägend war vielmehr die in jeder Hinsicht wilde Ehe , eine im Zweifelsfall erzwungene Verbindung zwischen Männern und Frauen ganzer Sippen zum Zweck des Überlebens und der Fortpflanzung, der Suche nach Nahrung und ihrer Zubereitung, der Aufzucht von Kindern und der Absicherung gegen Gefahren. Eine große Rolle spielte womöglich die Erfindung des Kochens mit der darauf folgenden »Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern«: Frauen sammeln und kochen, Männer jagen und beschützen (Richard Wrangham, Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte , 2009, 140).
Eine Unterart der wilden Ehe war die Raubehe , die gewaltsame Aneignung von Frauen durch Männer, wie sie in der Erzählung vom »Raub der Sabinerinnen« in der Frühzeit Roms Niederschlag fand und selbst im 21. Jahrhundert noch in manchen Regionen der Welt, etwa in Kirgisien, praktiziert wird. Von der Idee, Regeln für das Zusammenleben der Geschlechter zu formulieren und eine formelle Ehe zu begründen, zeugen erstmals gesetzliche Bestimmungen im babylonischen Codex Hammurabi um 1750 v. Chr., wonach eine Frau per Eheschließung zum Eigentum eines Mannes wird, sowie ägyptische Verträge ab dem 9. Jahrhundert v. Chr., in denen Frauen eigene Rechte zugesprochen werden. Manche Kulturen bewahren Reste archaischer Traditionen in der Form der Polygamie auf, die meist als Vielehe eines Mannes mit mehr als einer Frau verstanden wird. Andere Kulturen mühen sich weiter mit der Monogamie ab, der Einehe zwischen zweien. Beide Varianten sind keine Naturerscheinungen, sondern kulturelle Festlegungen, deren Bewährungsprobe in der Praxis fortdauert (Marie-Luise Schwarz-Schilling, Die Ehe – Seitensprung der Geschichte , 2004).
Außenstehende haben in die Binnenverhältnisse einer Ehe wenig Einblick; umso größer ist die Neugierde, schon in antiker Zeit war das so, auch bei Philosophen: Sokrates gestand, sich Geschichten darüber mit größerer Lust anzuhören, »als wenn du von dem besten Zweikampf oder dem schönsten Reitturnier erzählen wolltest« (Xenophon, Oikonomikos , VI, 9 ff.). Xenophons Darstellung eines Gesprächs über die Ehe, das Sokrates geführt haben soll, stammt aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. und ist ein Beleg für die frühe Unzufriedenheit mit der Realität der Ehe zwischen zweien: Männer vergnügten sich oft mit ihresgleichen und mit Knaben, auch mit Hetären (Freundinnen, Geliebten) und Dirnen.
Schon im 7./6. Jahrhundert v. Chr. hatte Solon die Männer in Athen per Gesetz darauf verpflichtet, wenigstens dreimalim Monat sexuelle Beziehungen zur eigenen Ehefrau zu unterhalten. Sokrates unternimmt nun erstmals den Versuch, eine philosophische Idee der Ehe zu entwickeln, um ihrer Realität neue Impulse zu geben. Er erörtert mit seinen Gesprächspartnern die Frage, wie Eheleute miteinander umgehen sollten, damit die Frauen nicht länger »wie Mägde« behandelt werden und sie umgekehrt ihren Männern keinen »großen Schaden« mehr verursachen. Ein besonderes Vertrauensverhältnis sollten beide zueinander unterhalten, die notwendigen Arbeiten (Hausarbeit, Feldarbeit, politische Arbeit) untereinander aufteilen, bei aller Kooperation auch miteinander konkurrieren, nämlich um das jeweils beste Können, die Exzellenz ( arete ).
Sokrates konnte seiner eigenen Ehe mit Xanthippe damit wohl nicht weiterhelfen, aber die Grundidee blieb fortan im Spiel, nämlich mithilfe von Reflexion immer wieder die Realität der Ehe zu durchbrechen und sich zu fragen: Ist es das, was wir uns vorgestellt haben? Wer hat überhaupt welche Vorstellung? Welche andere Vorstellung ist möglich? Wie ist sie zu realisieren? Die Ehe individuell reflektieren und definieren zu können, eröffnet Möglichkeiten über die natürlichen Bedingungen und kulturellen Konventionen hinaus. Auch wenn Natur und Kultur ihre Bedeutung nie
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