Dem Tod auf der Spur
Rechtsmedizin nicht eine Hilfswissenschaft der Juristerei, die erst dann in Erscheinung tritt, wenn es eigentlich zu spät ist, die zum Einsatz kommt, wenn das »Kind längst in den Brunnen gefallen ist«? Ganz und gar nicht. Dem Menschen, der als Toter in unserem Institut landet, können wir natürlich nicht mehr helfen. Aber die Resultate unserer Untersuchungen helfen den Lebenden.
So ist die Rechtsmedizin neben der Pathologie die Qualitätskontrolle der Medizin schlechthin. Zu unseren Aufgaben gehört es nämlich auch, zu erkennen, ob eine Operationsmethode oder medikamentöse Behandlung versagt hat oder ob Krankheiten nicht rechtzeitig erkannt worden sind und daraus der Tod eines Patienten resultierte. Das ist von besonderer Bedeutung, wenn man bedenkt, dass es in der Medizin ständig neue operative oder medikamentöse Behandlungsmethoden gibt.
Indem die Rechtsmedizin Klarheit darüber bringt, wann, wo und unter welchen Umständen ein Mensch zu Tode gekommen ist, können Mörder und andere Gewaltverbrecher überführt und so weitere potentielle Opfer vor ihnen geschützt werden.
Und schließlich besteht ein wichtiger Teil der rechtsmedizinischen Arbeit darin, unbekannte Leichen zu identifizieren, oft welche, die kaum mehr zu erkennen sind. So können wir den Angehörigen immerhin einen letzten Dienst erweisen, denn ich kann mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als in ständiger Ungewissheit zu leben, ob ein geliebter Mensch, der vermisst wird, tot oder noch am Leben ist. Ich kenne aus meiner eigenenberuflichen Erfahrung nicht wenige Fälle, in denen Familien darüber zerbrachen und manch einer sein Heil im Alkohol oder gar im Suizid gesucht hat. Möglichst vielen Angehörigen das unerträgliche Hin und Her zwischen Hoffen und Bangen zu ersparen ist sicher nicht weniger wichtig, als zur Aufklärung eines Mordes beizutragen.
Rechtsmediziner zu sein heißt also ganz und gar nicht, sich nur mit dem Tod zu beschäftigen. Stattdessen beschäftigen wir uns aus Sicht des Todes mit dem Leben – und den Lebenden.
Und manchmal stehen wir Rechtsmediziner auf eine sehr spezielle und eigenartige Weise »mitten im Leben«: Als in den neunziger Jahren das oft tödlich endende S-Bahn-Surfen in Mode kam, wurden Rechtsmediziner als Erste Zeugen dieses neuen »Trends«. Genauso war es bei den »Crash Kids«, Jugendlichen, die sich mit gestohlenen Wagen halsbrecherische Rennen lieferten, in der Hoffnung, dass es der Airbag schon richten wird. Tut er auch häufig, aber halt nicht immer. »Komasaufen«, selbsthergestellte Designerdrogen, die tödlich wirken, satanistische Tötungsrituale, Serienmorde oder Sexpraktiken mit tödlichem Ausgang – die Opfer landen zuerst bei uns auf dem Obduktionstisch, meist unbemerkt von Medien und Öffentlichkeit. Und seien Sie versichert, lieber Leser, Sie wollen gar nicht wissen, was alles nicht publik gemacht wird. Denn sonst könnten Sie – im Gegensatz zu mir – nicht mehr ruhig schlafen.
Ein weiteres Beispiel gefällig? Rohstoffpreise sind in letzter Zeit stark gestiegen, insbesondere für Kupfer. Sie meinen, das interessiert nur Börsianer? Weit gefehlt.Manche Menschen ziehen mit Bolzenschneidern los, um Kupferkabel zu stehlen. Allerdings stehen diese Kabel häufig unter Starkstrom. Die verkohlten Leichen mit den Bolzenschneidern landen dann bei uns auf dem Sektionstisch.
Wie Sie sehen, gibt es also gute Gründe, den Tod näher in Augenschein zu nehmen. Das hat sich offenbar schon vor einiger Zeit herumgesprochen, denn in den letzten Jahren hat die Rechtsmedizin einen regelrechten Boom erfahren. Allerdings hauptsächlich in der bunten Welt der Medien. Amerikanische Fernsehserien wie CSI, Crossing Jordan oder Autopsy haben eine begeisterte Anhängerschaft, und auch in den Krimis und Thrillern auf dem Buchmarkt und im Kino werden immer häufiger und detaillierter Obduktionen beschrieben und forensische Aspekte berücksichtigt. Ebenso liest man immer häufiger in der Presse von Obduktionsergebnissen, toxikologischen Befunden und Aussagen der Staatsanwaltschaft zu einem Ermittlungsverfahren, die sich auf rechtsmedizinische Untersuchungsergebnisse stützen.
Leider jedoch ist vieles von dem, was in Romanen, TV-Serien und Kinofilmen an rechtsmedizinischen Zusammenhängen in Umlauf gebracht wird, so fiktional wie die erfundenen Figuren. Deshalb habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Damit Interessierte mehr über den tatsächlichen Alltag eines Rechtsmediziners
Weitere Kostenlose Bücher