0958 - Der Keller
Das Gesicht mit den aufgerissenen Wangen und den blutigen Lippen war ein Alptraum, der nicht weichen wollte, aber Gisela Behle hatte ihn hinter sich. Sie war ihm entkommen und diesem verdammten Monstrum entwischt, das sich an ihr hatte vergehen wollen.
Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet. In der letzten Zeit war sie überreizt. Das erste Jahr auf der Straße war eine Zeit der Entbehrungen und bösen Erfahrungen. Aber sie hatte ihn gespürt, und sie war aus dem Schlaf gerissen worden, hatte seinen säuerlichen Atem über sich hinweg gleiten und riechen können, hatte auch das Gesicht gesehen, das ihr so schrecklich vorgekommen war.
Dann war sie geflohen.
Sie war gerannt.
Sie hatte ihr Bündel gerafft und noch mit einem Ellbogen in das Gesicht gestoßen. Danach war nichts mehr so gewesen wie vorher. Weglaufen, Flucht, irgendwohin, in die Nacht hinein, die so verdammt kalt war, weil der Frühling einfach nicht kommen wollte. Sie hatte sich verkrochen wie ein Tier, das seinen Zusammenbruch erlebt hatte. Sie war nicht erwischt worden, sie hatte auch die Nacht überstanden, aber die Kälte hatte ihr schon zu schaffen gemacht.
Sie war am anderen Morgen steif gewesen. Gisela hatte geheult, so weh taten ihr die Glieder. Nur schwerfällig bewegte sie sich.
Auf der Walze, auf der Platte, wie man es auch immer nannte. Romantisch und schön war es nicht, vor allen Dingen nicht im Winter. Nach der Wende war es mit Gisela Behle ständig bergab gegangen, und irgendwann hatte sie dann auf der Straße gehangen.
Und dabei war es geblieben. In diesem langen, verdammten Winter hatte sie schon einiges mitgemacht. Da waren ihr schon einige Typen übet den Weg gelaufen, wo man nur den Kopf schütteln konnte.
Bestohlen worden war sie schon mehrmals, von ebenfalls Nichtseßhaften.
Und diese Tatsache, die Kriminalität unter Gleichgesinnten, machte das ohnehin schon harte Leben auf der Straße noch schlimmer.
Wohin?
Diese Frage hatte sich Gisela Behle schon des öfteren gestellt. Noch brauchte sie einen Unterschlupf für die Nächte, die einfach nicht wärmer werden wollten. Es gab da gewisse Häuser, die man sich mal näher anschauen konnte, besonders dieses eine Haus, das auf einem stillgelegten Industriegelände stand.
Es war gewaltig, riesig. Ein Klotz und ein ehemaliges Bürogebäude, in dem Menschen gearbeitet hatten.
Das Haus wurde nur der Schlund genannt. Es war eine Ruine, die alles schluckte. Sie war nicht abgebrannt, aber trotzdem war es eine Ruine, und sie wurde von Industrieruinen ümge ben, denn das Hüttenwerk auf diesem Gelände gab es nicht mehr.
Es hingen dort nur noch Fragmente Da rosteten die Rohre vor sich hin, da schimmelten die Wände. Es war soviel kaputt, da kam es auf das eine oder an dere auch nicht an.
Bis auf das Haus!
Ein Bau aus der Jahrhundertwende. Klassizistisch, mächtig, wie für die Ewigkeit geschaffen und scheinbar nicht unterzukriegen. Es hatte immerhin zwei Kriege überstanden.
Nur nicht die Wende.
Niemand wollte es mehr. Der große Bau stand leer. Er düsterte ab, innen und außen. Er war nur noch kalt und abweisend, und es gab die bösen Geschichten, die sich um das Haus rankten.
Menschen, die sich dort verkrochen hatten, um Ruhe zu finden. Sie waren nie mehr wieder aufgetaucht, wahrscheinlich hatten sie die ewige Ruhe gefunden.
Man sprach von unheimlichen Kellern und Gängen. Von Geräuschen, von Schreien irgendwelcher Opfer oder dem Jammern der Geister, deren Stimmen das Haus durchwehten.
Gisela Behle fröstelte, als sie daran dachte. Aber sie fror noch mehr, wenn sie an die folgenden Nächte dachte. Die waren so kalt, daß Menschen leicht erfrieren konnten, wenn sie keine Unterkunft hatten.
Trotz aller Gerüchte bot der Schlund irgendwie Schutz, und auf den wollte Gisela Behle nicht verzichten. Sie hatte in den letzten Tagen Furchtbares erlebt. Schlimmer als die Nächte in der Kälte konnte es hinter den alten Mauern auch nicht sein. Angst hatte sie nicht. Schon damals nicht, als sie von der Stasi verhört worden war. Da hatte sie nur abgewinkt und die Typen ausgelacht. Aber damals hatte sie eine Wohnung gehabt und hing nicht auf der Straße wie jetzt. Vor drei Wochen hatte sie ihren vierzigsten Geburtstag »gefeiert«, irgendwo unter einer Elbbrücke, und sie hatte Rotz und Wasser dabei geheult.
Sie würde den Schlund noch an diesem Tag erreichen, das stand fest.
Und sie wollte dort so lange hausen, bis die verdammte Kälte vorbei war.
Zu ihrem Besitz gehörte
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