Dem Tod auf der Spur
natürlich den Tod beschleunigt.
Bei der Untersuchung der inneren Organe Lingens fanden wir die typischen Zeichen eines starken Blutverlustes zu Lebzeiten, die uns in den vorangegangenen Kapiteln schon des öfteren begegnet sind: spärliche Totenflecke, auffallend blasses Zahnfleisch, Blässe der Schleimhäute von Mund und Rachen und Speiseröhre sowie eine generelle Blutarmut der inneren Organe.Als ich die beiden Herzkammern und die herznahen Gefäße mit der Schere aufschnitt, war auch hier nur noch sehr wenig Blut vorhanden, und auch das Milzgewebe war schlaff und blutleer, wie dies ebenfalls typisch für einen Verblutungstod ist.
Die toxikologische Untersuchung lieferte uns weitere Belege dafür, dass Bernd Lingen Suizid begangen hatte. Sein Venenblut wies eine Doxylamin-Konzentration von 14,2 μg/ml auf. Doxylamin ist eine Substanz, die als Schlafmittel verschrieben wird. Dass wir zusätzlich im Magen des Verstorbenen mit 793 μg/ml eine sehr hohe Wirkstoffkonzentration von Doxylamin feststellten, zeigte uns, dass Lingen das Medikament kurz vor seinem Tod und in sehr hoher Dosierung (ziemlich sicher in suizidaler Absicht) eingenommen hatte. Ein Großteil des Wirkstoffs hatte den Magen noch gar nicht passiert, d.h., er war noch nicht über den Magenpförtner in den Dünndarm gelangt. Hätte sich Lingen nicht unmittelbar nach Einnahme des Schlafmittels die Pulsadern aufgeschnitten, wäre die Doxylamin-Konzentration in seinem Mageninhalt weitaus geringer, dafür in seinem Blut deutlich höhergewesen und hätte vielleicht auch allein zum Tode geführt.
Die Folgen der Vergiftung mit dem Schlafmittel zeigten sich auch am Gehirn. Bei der Obduktion wird es nach Entnahme aus dem Schädel zunächst gewogen, ehe man nach einer äußeren Inspektion der Hirnoberfläche und der Schlagadern an der Unterseite das Gehirn dann in 12 bis 14 jeweils etwa einen Zentimeter dicke Scheiben schneidet, um auch die inneren Hirnstrukturen genau begutachten zu können.
Als wir Lingens Gehirn wogen, stellten wir ein deutlich erhöhtes Hirngewicht und eine deutliche Hirnschwellung fest, beides für Vergiftungen typische pathologische Befunde. Das Gehirn reagiert relativ gleichförmig auf die verschiedensten Schad- oder Giftstoffe, nämlich mit einer Schwellung durch vermehrte Wassereinlagerung im Hirngewebe, unabhängig davon, ob es sich dabei um zu viel Alkohol, eine überhöhte Dosis eines Medikaments oder ein Trauma, z.B. eine Hirnerschütterung, handelt.
Bernd Lingen war verblutet, nachdem er sich erst vergiftet und anschließend die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Vorher hatte er einen Abschiedsbrief an seine Frau Irene geschrieben, ihn gut sichtbar ins Wohnzimmer gelegt – und war dann zum Sterben in der Regentonne seines eigenen Gartens untergetaucht. Warum? Wieso versteckt sich jemand selbst, wie ein Mörder sein Mordopfer versteckt, bevor er sich das Leben nimmt?
Mich erinnert dieses Verhalten an verletzte oder sehr alte Tiere, die sich zum Sterben an einen verborgenenPlatz begeben. Und an die berühmten Elefantenfriedhöfe, die alte und kranke Elefanten angeblich aufsuchen, um dann dort in Ruhe zu sterben.
Fakt ist, dass sich viele lebensmüde Menschen aus Rücksichtnahme auf ihre Angehörigen außerhalb ihrer häuslichen Umgebung töten. Sie wollen die gemeinsame Wohnung nicht mit ihrem Blut beschmutzen und ihren Angehörigen oder Mitbewohnern das Auffinden ihrer Leiche ersparen. Dieses Verhalten beobachten wir vor allem bei Suiziden, die mit Hilfe »harter« Suizidmethoden wie einem Sprung aus großer Höhe, Erhängen oder wie in unserem Fall durch Einwirkung scharfer Gewalt – also mit Messern und anderen Schnittwerkzeugen – ausgeführt werden.
Wer sich jedoch in die Regentonne begibt und den Deckel schließt, bevor er mit dem Suizid beginnt, will ganz sicher nicht nur Rücksicht nehmen. Ein solcher Mensch will im Moment des Todes und danach so allein sein, wie er sich zu Lebzeiten gefühlt hat. Er will nicht gesehen oder gestört werden, während er die Welt verlässt. Und manche wollen darüber hinaus auch nie mehr gefunden werden. Indem sie ihre Selbsttötung so inszenieren, dass sie praktisch »vom Erdboden verschluckt« werden, kappen sie jegliche Verbindung zwischen sich und dieser Welt. Entsprechend wird das Untertauchen vor dem Suizid in der rechtsmedizinischen Fachliteratur als »suizidales Höhlenverhalten« bezeichnet.
Bernd Lingen wollte in Einsamkeit sterben, aber nicht auf Kosten seiner Frau. Sie
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