Dem Tod auf der Spur
Knie angewinkelt – eine beinahe andächtige, embryonale Haltung. An der Innenseite der Unterarme fanden sich unterschiedlich tiefe, zum Teil klaffende Schnittverletzungen. Neben der Leiche lagen mehrere blutige Rasierklingen, ein blutiges Brotmesser, ein ebenfalls blutbeschmiertes Obstmesser und ein Trinkgefäß. Der Boden der Tonne war mit geronnenem Blut bedeckt, ebenso Pullover und Hose des Toten. Diesen Anblick wird Irene Lingen sicher niemals vergessen, genauso wenig wie den Geruch nach Leichenfäulnis, der ihr aus der Tonne entgegengeströmt war.
Noch vor Beginn der Obduktion untersuchten wir die Regentonne, die mitsamt dem Toten ins Institut gebracht worden war. Und stießen bereits hier auf ein entscheidendes Detail: An der Innenseite des Tonnendeckels, der bei Lingens Auffinden ja geschlossen gewesen war, entdeckten wir zahlreiche Blutspritzer. Ihre Form – sie sahen aus wie kleine Ausrufezeichen – zeigte uns, dass der Verletzte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch einen Blutdruck gehabt hatte. Lingen hatte folglich noch gelebt, als er in der Tonne war, konnte also nicht im Anschluss an einen Mord dorthin verfrachtet worden sein. Dafür sprach auch die funktionsfähige Taschenlampe, die die Ermittler in der Tonne gefunden hatten.
Wie es aussah, war Bernd Lingen, nachdem er seiner Frau den Brief hinterlassen hatte, in die Tonne geklettert, hatte den Deckel von innen geschlossen und sich anschließend, in der Tonne zusammengekauert, diePulsadern aufgeschnitten. Diesen ohnehin nicht in Zweifel gezogenen Verdacht konnte die Obduktion detailliert belegen.
An den Unterarmen fanden wir, wie ich in das Sektionsprotokoll diktierte,
»Zeichen scharfer Gewalteinwirkung in Form von zahlreichen parallelen, sich nicht überkreuzenden, unterschiedlich tiefen Schnittverletzungen an den Innenseiten beider Handgelenke mit umgebender kräftiger dunkelroter Unterblutung und Freiliegen der Beugersehnen der Handmuskeln in diesem Bereich«.
Umgangssprachlich würde man von »Pulsaderschnitten« sprechen. Daneben wies die Haut dort mehrere weniger tiefe Wunden auf, wie wir sie häufig bei Leuten finden, die sich die Pulsadern aufgeschnitten haben. Obwohl entschlossen, sich das Leben zu nehmen, testen die Betreffenden für gewöhnlich erst den Schmerz und ob sie in der Lage sind, sich selbst auf diese Weise tödlich zu verletzen. Entsprechend bezeichnen Rechtsmediziner diese oberflächlichen Schnitte als »Probierschnitte« oder auch »Zauderschnitte«.
Bei Bernd Lingen lagen die Verletzungen an einer Stelle, die für die messerführende Hand gut erreichbar war, und sie verliefen parallel – beides Indizien dafür, dass er sie sich selbst beigebracht hatte. Schnittverletzungen, die einem Opfer gegen seinen Willen zugefügt werden, bieten in der Regel ein deutlich unregelmäßigeres Bild: Sie sind unterschiedlich tief und verlaufenkreuz und quer, weil der Angegriffene dabei natürlich nicht stillhält.
Als wir nun das Weichgewebe und die Muskulatur der Unterarme schichtweise präparierten, um die hier gelegenen Gefäße, Nerven und Sehnen näher in Augenschein zu nehmen, stellten wir fest, dass beide Ellenschlagadern quer zu ihrer Längsachse durchtrennt waren. Auch die oberflächlichen Hautvenen an den Innenseiten beider Handgelenke waren durchtrennt, ebenso wie der begleitende große Nerv am rechten Unterarm. Diese vollständige Durchtrennung beider Ellbogenschlagadern hatte zu einer arteriellen, stark spritzenden Blutung und letztlich zu einem Tod durch Verbluten geführt.
Bernd Lingen hatte also getan, wovon in Suizid-Foren im Internet immer abgeraten wird: Er hatte die Pulsadern quer durchtrennt. Bei Schnitten quer zum Gefäßverlauf kommt es häufig zur sogenannten Gefäßstumpfretraktion. Auf den Schnittreiz hin können sich hierbei die quer durchgeschnittenen Arterien am Handgelenk im Stumpfbereich etwas zusammenrollen. Durch den dadurch bedingten Gefäßverschluss kann die Blutung ganz oder teilweise gestoppt werden. Die Gefäßstumpfretraktion ist, neben der Blutgerinnung, sozusagen ein körpereigener Schutzmechanismus gegen das Verbluten. Aus diesem Grund schneiden sich viele Menschen mit Suizidabsicht die Pulsadern in Längsrichtung des Armes auf. Dadurch wird nicht nur das Zusammenrollen der angeschnittenen Gefäßstümpfe verhindert, sondern es wird auch eine sehr viel größere Fläche der Arterie geöffnet. Entsprechend kannsehr viel mehr Blut in sehr viel kürzerer Zeit herausströmen – was
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