Dem Tod auf der Spur
Tablettenvergiftung. Suizidversuche sind etwa zehnmal häufiger als vollendete Suizide, und Frauen begehen ungefähr doppelt so viele Suizidversuche wie Männer.
Im Lauf der Menschheitsgeschichte war der Suizidnicht immer ein Akt der Verzweiflung. In manchen Staatsformen und Kulturen wurde er durchaus als pragmatische Lösung gesehen, um eine Welt zu verlassen, in der man nicht mehr verweilen mochte oder aufgrund seiner Einstellung konnte. So wurde dem Philosophen Seneca vom römischen Kaiser Nero befohlen, sich umzubringen. Er ließ sich von seinem Diener im Beisein seiner Freunde die Pulsadern öffnen, eine Praxis, die bei den Römern ein Teil des Ehrenkodex war, heute aber als aktive Sterbehilfe strafrechtlich verfolgt werden würde. Seneca hatte sich immer wieder kritisch mit jenen Philosophen auseinandergesetzt, die den Suizid als »Sünde am Leben« bezeichneten. Für Seneca, den Stoiker, war Suizid zu allererst ein Akt der persönlichen Freiheit.
Fast jeder kennt auch die japanischen Samurai, die sich im 12. Jahrhundert durch »Seppuku« (dies ist der richtige Ausdruck statt des oft gebrauchten »Harakiri«) mit ihren Kurzschwertern – den Wakizashi – töteten, wenn sie ihr Gesicht oder ihre Ehre gegenüber ihrem Lehnsherrn oder sich selbst verloren zu haben glaubten, ähnlich wie die Römer. Dazu stießen sie sich das Schwert ungefähr sechs Zentimeter unterhalb des Nabels in den Leib und zogen es anschließend von links nach rechts und dann nach oben. Auf diese Weise wurde die Bauchaorta vollständig durchtrennt, was zum sofortigen Tod durch Verbluten führte. Erst 1868 wurde Seppuku im Rahmen der Meiji-Restauration verboten.
Inzwischen gehören die Samurai samt ihrer Rituale zwar der Vergangenheit an, doch lässt sich eine derart bekannte Suizidmethode nicht komplett aus der Weltschaffen, weder durch ein Verbot noch durch gesellschaftliche und politische Veränderungen. Dass es noch immer Anhänger dieser martialischen Selbsthinrichtung gibt, konnte ich zuletzt im Winter 2008 erleben. Ein 46-jähriger Mann wurde splitternackt und blutüberströmt von seinem Lebensgefährten aufgefunden. Der Tote saß an die Wand gelehnt in einer Ecke des Schlafzimmers. Fast der gesamte Fußboden des Schlafzimmers war mit Blut bedeckt. Die Polizei ging zunächst von einem barbarischen Tötungsdelikt aus, bevor die Obduktion die Wahrheit ans Licht brachte: Der Mann, bei dem vor Jahren bereits eine Schizophrenie diagnostiziert worden war, hatte sich mit einem knapp 30 Zentimeter langen Brotmesser, das vor dem Toten auf dem Fußboden lag, den Bauch aufgeschlitzt.
Doch weder Senecas Freiheitsbegriff noch die Ehrbegriffe untergegangener Kulturen helfen uns weiter, wenn es darum geht, den Menschen andere Auswege aufzuzeigen als Suizid.
Erfreulicherweise nimmt die Zahl der Suizide in Deutschland seit den achtziger Jahren kontinuierlich ab – von 18.451 Menschen im Jahre 1980 auf 9.765 Menschen im Jahre 2006 und 9.402 Menschen im Jahre 2007. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland nach einer Studie der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit zehn Suiziden pro 100.000 Einwohner auf Platz vier. Die ersten drei Plätze belegen Japan mit 18, Frankreich mit 15 und Kanada mit 11 Suiziden.
Der deutliche Rückgang in Deutschland, wie auch in anderen industrialisierten Ländern, ist wohl der besseren Ausbildung von Ärzten und Mitarbeitern in Pflegeberufen zu verdanken, die Depressionen – die Hauptursache für einen Suizid – früher erkennen und erfolgreicher behandeln können. Auch verschreiben Ärzte in Deutschland mittlerweile sehr viel mehr Psychopharmaka als noch vor ein paar Jahren, und die neuentwickelten Antidepressiva haben auch nicht mehr die gravierenden Nebenwirkungen, wie sie frühere Präparate hatten. Diese Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen oder Kreislaufprobleme führten oft dazu, dass viele Patienten die Medikamente absetzten, ohne ihren Psychiater zu konsultieren, da sie lieber ihre Erkrankung als die Nebenwirkungen der Antidepressiva in Kauf nahmen.
Gleichzeitig wächst aber auch bei den Betroffenen selbst die Bereitschaft, Depressionen als Krankheit und nicht als persönliches Stigma anzuerkennen und sich mit ihren Problemen und Ängsten einem Arzt anzuvertrauen. Damit steigt für viele Menschen die Chance, durch medikamentöse Behandlung und begleitende Psychotherapie einen besseren Ausweg aus ihrer Depression zu finden als den
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