Demian
ich hörte diesen Märchen glühend zu. Unglaubliches erfuhr ich da, nie für möglich Gehaltenes trat in die platte Wirklichkeit, schien selbstverständlich. Alfons Beck hatte mit seinen vielleicht achtzehn Jahren schon Erfahrungen gesammelt. Unter anderen die, daß es mit den Mädchen so eine Sache sei, sie wollten nichts als Schöntun und Galanterien haben, und das war ja ganz hübsch, aber doch nicht das Wahre. Da sei mehr Erfolg bei Frauen zu hoffen. Frauen seien viel gescheiter. Zum Beispiel die Frau Jaggelt, die den Laden mit den Schulheften und Bleistiften hatte, mit der ließe sich reden, und was hinter ihrem Ladentisch schon alles geschehen sei, das gehe in kein Buch.
Ich saß tief bezaubert und benommen. Allerdings, ich hätte dieFrau Jaggelt nicht gerade lieben können – aber immerhin, es war unerhört. Es schienen da Quellen zu fließen, wenigstens für die Älteren, von denen ich nie geträumt hatte. Ein falscher Klang war ja dabei, und es schmeckte alles geringer und alltäglicher, als nach meiner Meinung die Liebe schmecken durfte, – aber immerhin, es war Wirklichkeit, es war Leben und Abenteuer, es saß einer neben mir, der es erlebt hatte, dem es selbstverständlich schien.
Unsere Gespräche waren ein wenig herabgestiegen, hatten etwas verloren. Ich war auch nicht mehr der geniale, kleine Kerl, ich war jetzt bloß noch ein Knabe, der einem Manne zuhörte. Aber auch so noch – gegen das, was seit Monaten und Monaten mein Leben gewesen war, war dies köstlich, war dies paradiesisch. Außerdem war es, wie ich erst allmählich zu fühlen begann, verboten, sehr verboten, vom Wirtshaussitzen bis zu dem, was wir sprachen. Ich jedenfalls schmeckte Geist, schmeckte Revolution darin.
Ich erinnere mich jener Nacht mit größter Deutlichkeit. Als wir beide, spät an trüb brennenden Gaslaternen vorbei, in der kühlen nassen Nacht unsern Heimweg nahmen, war ich zum erstenmal betrunken. Es war nicht schön, es war äußerst qualvoll, und doch hatte auch das noch etwas, einen Reiz, eine Süßigkeit, war Aufstand und Orgie, war Leben und Geist. Beck nahm sich meiner tapfer an, obwohl er bitter über mich als blutigen Anfänger schalt, und er brachte mich, halb getragen, nach Hause, wo es ihm gelang, mich und sich durch ein offenstehendes Flurfenster einzuschmuggeln.
Mit der Ernüchterung aber, zu der ich nach ganz kurzem totem Schlaf mit Schmerzen erwachte, kam ein unsinniges Weh über mich. Ich saß im Bett auf, hatte das Taghemd noch an, meine Kleider und Schuhe lagen am Boden umher und rochen nach Tabak und Erbrochenem, und zwischen Kopfweh, Übelkeit und rasendem Durstgefühl kam mir ein Bild vor die Seele, dem ich lange nicht mehr ins Auge gesehen hatte. Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles, heimatliches Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die Konfirmationsstunden – und alles dies war licht, alles war von Glanz umflossen, alles war wunderbar, göttlich und rein, und alles, alles das hatte – so wußteich jetzt – noch gestern, noch vor Stunden, mir gehört, auf mich gewartet und war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken und verflucht, gehörte mir nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste, goldenste Kindheitsgärten zurück von meinen Eltern erfahren hatte, jeder Kuß der Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme, helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume im Garten – alles war verwüstet, alles hatte ich mit Füßen getreten! Wenn jetzt Häscher gekommen wären und hätten mich gebunden und als Auswurf und Tempelschänder zum Galgen geführt, ich wäre einverstanden gewesen, wäre gern gegangen, hätte es richtig und gut gefunden.
Also so sah ich innerlich aus! Ich, der herumging und die Welt verachtete! Ich, der stolz im Geist war und Gedanken Demians mitdachte! So sah ich aus, ein Auswurf und Schweinigel, betrunken und beschmutzt, ekelhaft und gemein, eine wüste Bestie, von scheußlichen Trieben überrumpelt! So sah ich aus, ich, der aus jenen Gärten kam, wo alles Reinheit, Glanz und holde Zartheit war, ich, der ich Musik von Bach und schöne Gedichte geliebt hatte! Ich hörte noch mit Ekel und Empörung mein eigenes Lachen, ein betrunkenes, unbeherrschtes, stoßweis und albern herausbrechendes Lachen. Das war ich!
Trotz allem aber war es beinahe ein Genuß, diese Qualen zu leiden. So lange war ich blind und stumpf dahingekrochen, so lange hatte
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