Demian
hineingegangen, fühlte ich unter Schauern. Nie war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen wäre.
Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle mußten aufschauern! Aber niemand gab acht auf ihn. Er saß bildhaft und, wie ich denken mußte, götzenhaft steif, eine Fliege setzte sich auf seine Stirn, lief langsam über Nase und Lippen hinweg – er zuckte mit keiner Falte.
Wo, wo war er jetzt? Was dachte er, was fühlte er? War er in einem Himmel, in einer Hölle?
Es war mir nicht möglich, ihn darüber zu fragen. Als ich ihn, am Ende der Stunde, wieder leben und atmen sah, als sein Blick meinem begegnete, war er wie früher. Wo kam er her? Wo war er gewesen? Er schien müde. Sein Gesicht hatte wieder Farbe,seine Hände bewegten sich wieder, das braune Haar aber war jetzt glanzlos und wie ermüdet.
In den folgenden Tagen gab ich mich in meinem Schlafzimmer mehrmals einer neuen Übung hin: ich setzte mich steil auf einen Stuhl, machte die Augen starr, hielt mich vollkommen regungslos und wartete, wie lange ich es aushalten und was ich dabei empfinden werde. Ich wurde jedoch bloß müde und bekam ein heftiges Jucken in den Augenlidern.
Bald nachher war die Konfirmation, an welche mir keine wichtigen Erinnerungen geblieben sind.
Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Trümmer. Die Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren mir ganz fremd geworden. Eine Ernüchterung verfälschte und verblaßte mir die gewohnten Gefühle und Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen, fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch. So fällt um einen herbstlichen Baum her das Laub, er fühlt es nicht, Regen rinnt an ihm herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich langsam ins Engste und Innerste zurück. Er stirbt nicht. Er wartet.
Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule und zum ersten Male von Hause fortkommen sollte. Zuweilen näherte sich mir die Mutter mit besonderer Zärtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bemüht, mir Liebe, Heimweh und Unvergeßlichkeit ins Herz zu zaubern. Demian war verreist. Ich war allein.
Viertes Kapitel
BEATRICE
Ohne meinen Freund wiedergesehen zu haben, fuhr ich am Ende der Ferien nach St. Meine Eltern kamen beide mit und übergaben mich mit jeder möglichen Sorgfalt dem Schutz einer Knabenpension bei einem Lehrer des Gymnasiums. Sie wären vor Entsetzen erstarrt, wenn sie gewußt hätten, in was für Dinge sie mich nun hineinwandern ließen.
Die Frage war noch immer, ob mit der Zeit aus mir ein guter Sohn und brauchbarer Bürger werden könne, oder ob meine Natur auf andere Wege hindränge. Mein letzter Versuch, im Schatten des väterlichen Hauses und Geistes glücklich zu sein, hatte lange gedauert, war zeitweise nahezu geglückt, und schließlich doch völlig gescheitert.
Die merkwürdige Leere und Vereinsamung, die ich während der Ferien nach meiner Konfirmation zum erstenmal zu fühlen bekam (wie lernte ich sie später noch kennen, diese Leere, diese dünne Luft!), ging nicht so rasch vorüber. Der Abschied von der Heimat gelang sonderbar leicht, ich schämte mich eigentlich, daß ich nicht wehmütiger war, die Schwestern weinten grundlos, ich konnte es nicht. Ich war über mich selbst erstaunt. Immer war ich ein gefühlvolles Kind gewesen, und im Grunde ein ziemlich gutes Kind. Jetzt war ich ganz verwandelt. Ich verhielt mich völlig gleichgültig gegen die äußere Welt und war tagelang nur damit beschäftigt, in mich hineinzuhorchen und die Ströme zu hören, die verbotenen und dunklen Ströme, die da in mir unterirdisch rauschten. Ich war sehr rasch gewachsen, erst im letzten halben Jahre, und sah aufgeschossen, mager und unfertig in die Welt. Die Liebenswürdigkeit des Knaben war ganz von mir geschwunden, ich fühlte selbst, daß man mich so nicht lieben könne, und liebte mich selber auch keineswegs. Nach Max Demian hatte ich oft große Sehnsucht; aber nicht selten haßte ich auch ihn und gab ihm schuld an der Verarmung meines Lebens, die ich wie eine häßliche Krankheit auf mich nahm.
In unserem Schülerpensionat wurde ich anfangs weder geliebt noch geachtet, man hänselte mich erst, zog sich dann von mir zurück und sah einen Duckmäuser
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