Demian
doch nicht mit allem und jedem umspringen, auch mit dem
Heiligsten.
Er merkte meinen Widerstand, wie immer, sofort, noch ehe ich irgend etwas sagte.
Ich weiß schon“, sagte er resigniert, es ist die alte Geschichte. Nur nicht
”
”
Ernst machen! Aber ich will dir etwas sagen : hier ist einer von den Punkten, 39
wo man den Mangel in dieser Religion sehr deutlich sehen kann. Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausge-zeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und auch Hohe, das Sentimentale – ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott als Vater alles Lebens rühmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen und womöglich für Teufelszeug und sündlich erklären! Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte!
Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. Das fände ich richtig. Oder aber, man müßte sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn die natürlichsten Dinge von der Welt geschehen.“
Er war, gegen seine Art, beinahe heftig geworden, gleich darauf lächelte er jedoch wieder und drang nicht weiter in mich.
In mir aber trafen diese Worte das Rätsel meiner ganzen Knabenjahre, das ich jede Stunde in mir trug und von dem ich nie jemandem ein Wort gesagt hatte. Was Demian da über Gott und Teufel, über die göttlich-offizielle und die totgeschwiegene teuflische Welt gesagt hatte, das war ja genau mein eigener Gedanke, mein eigener Mythus, der Gedanke von den beiden Welten oder
Welthälften – der lichten und der dunkeln. Die Einsicht, daß mein Problem ein Problem aller Menschen, ein Problem alles Lebens und Denkens sei, überflog mich plötzlich wie ein heiliger Schatten, und Angst und Ehrfurcht überkam mich, als ich sah und plötzlich fühlte, wie tief mein eigenstes, persönliches Leben und Meinen am ewigen Strom der großen Ideen teilhatte. Die Einsicht war nicht freudig, obwohl irgendwie bestätigend und beglückend. Sie war hart und schmeckte rauh, weil ein Klang von Verantwortlichkeit in ihr lag, von Nichtmehrkindseindürfen, von Alleinstehen.
Ich erzählte, zum erstenmal in meinem Leben ein so tiefes Geheimnis ent-hüllend, meinem Kameraden von meiner seit frühesten Kindertagen beste-
henden Auffassung von den zwei Welten“, und er sah sofort, daß damit mein
”
tiefstes Fühlen ihm zustimmte und recht gab. Doch war es nicht seine Art, so etwas auszunützen. Er hörte mit tieferer Aufmerksamkeit zu, als er sie mir je geschenkt hatte, und sah mir in die Augen, bis ich die meinen abwenden muß-
te. Denn ich sah in seinem Blick wieder diese seltsame, tierhafte Zeitlosigkeit, dies unausdenkliche Alter.
Wir reden ein andermal mehr davon“, sagte er schonend.
Ich sehe, du
”
”
denkst mehr, als du einem sagen kannst. Wenn das nun so ist, dann weißt du 40
aber auch, daß du nie ganz das gelebt hast, was du dachtest, und das ist nicht gut. Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. Du hast gewußt, daß deine erlaubte Welt‘ bloß die Hälfte der Welt war, und du hast versucht, die
’
zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. Es wird dir nicht glücken! Es glückt keinem, wenn er einmal das Denken angefangen hat.“
Es traf mich tief.
Aber“, schrie ich fast, es gibt doch nun einmal tatsächlich und wirklich
”
”
verbotene und häßliche Dinge, das kannst du doch nicht leugnen! Und die sind nun einmal verboten, und wir müssen auf sie verzichten. Ich weiß ja, daß es Mord und alle möglichen Laster gibt, aber soll ich denn, bloß weil es das gibt, hingehen und ein Verbrecher werden?“
Wir werden heute nicht damit fertig“, begütigte Max.
Du sollst gewiß
”
”
nicht totschlagen oder Mädchen Lustmorden, nein. Aber du bist noch nicht dort, wo man einsehen kann, was erlaubt‘ und verboten‘ eigentlich heißt. Du
’
’
hast erst ein Stück von der Wahrheit gespürt. Das andere kommt noch,
Weitere Kostenlose Bücher