Den Tod im Blick- Numbers 1
geflogen?
Böses Mädchen gewesen, was?«
Von der Schule geflogen, aus meinem letzten »Zuhause« geflogen, genau wie aus dem davor und aus dem davor auch. Die Leute scheinen nicht zu begreifen, was mit mir los ist. Nicht zu verstehen, dass ich ein bisschen Platz brauche. Ständig sagen sie mir, was ich tun soll. Sie glauben, wenn du die Regeln befolgst, saubere Finger hast und dich anständig benimmst, wird alles gut. Die haben doch keine Ahnung.
Er griff in seine Tasche. »Willste ’ne Kippe? Ich hab welche, hier.«
Ich blieb stehen und schaute zu, wie er eine zerknitterte Packung herauszog. »Na gut.«
Er reichte mir eine Zigarette und gab mir Feuer. Ich beugte mich vor, zog, bis sie brannte, und sog gleichzeitig etwas von seinem Gestank ein. So schnell es nur ging, fuhr ich zurück und atmete wieder aus. »Danke«, murmelte ich.
Er zog an seiner Zigarette, als ob es das Schönste auf der Welt wär, dann blies er den Rauch demonstrativ aus und lächelte. Und ich dachte: Nur noch weniger als drei Monate, dann ist alles vorbei. Und das Einzige, was der arme Scheißkerl hat, ist Schule schwänzen und rauchen am Kanal. Nicht gerade das, was man Leben nennt, oder?
Ich setzte mich auf einen Stapel alter Eisenbahnschwellen. Durch das Nikotin fühlte ich mich etwas weniger gereizt, aber Spinne brachte nichts zur Ruhe. Er stand auf, setzte sich wieder, kletterte auf die Schwellen, sprang herunter, balancierte auf den Fußballen am Kanalrand und sprang wieder zurück. Ich dachte: Genauso wird er sterben, das arme Schwein. Er springt von irgendwas runter und bricht sich dabei den Hals.
»Sitzt du eigentlich nie still?«, fragte ich ihn.
»Nee, bin doch keine Statue. Keine Wachsfigur wie bei Madame Tussaud. Ich hab echt ’n Haufen Energie, Mann.« Und er führte einen kleinen Tanz vor. Was mich zu einem Lächeln zwang. Konnte nichts dagegen tun. War wie das erste Mal seit Jahren. Er grinste zurück.
»Hast echt ’n hübsches Lächeln«, meinte er.
Das war’s. Ich mag keine persönlichen Kommentare. »Verpiss dich, Spinne«, sagte ich. »Verpiss dich einfach.«
»Entspann dich, Mann. Hab’s nicht so gemeint.«
»Ja, gut … ich mag’s einfach nicht.«
»Und du magst auch keine Leute angucken, stimmt’s?«
Ich zuckte die Schultern.
»Die Leute denken, du hältst dich für was Besonderes, so wie du immer nach unten siehst und nie jemandem in die Augen.«
»Ist auch persönlich. Ich hab meine Gründe.«
Er drehte sich um und kickte einen Stein in den Kanal. »Von mir aus. Hör zu, ich werd nie wieder was Nettes zu dir sagen, einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete ich. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Ein Teil von mir wollte es mehr als alles andere auf der Welt – jemanden haben, mit dem ich rumhängen, mit dem ich für eine Weile wie alle andern sein konnte. Doch der Rest schrie, ich sollte verdammt noch mal abhauen und mich nicht einlullen lassen. Du gewöhnst dich an ihn – fängst sogar an ihn zu mögen – und dann verlässt er dich. Am Ende machen sie alle die Fliege. Ich sah Spinne an, wie er rastlos von einem Fuß auf den andern hüpfte, plötzlich nach ein paar Steinen griff und sie ins Wasser warf. Lass dich nicht drauf ein, Jem , dachte ich. In ein paar Monaten ist er tot.
Während er mir den Rücken zuwandte, erhob ich mich leise von den Eisenbahnschwellen und rannte los. Ohne Erklärung, ohne Abschied.
Ich hörte, wie er mir hinterherrief: »Hey, wo willste denn hin?« Ich wollte, dass er zurückblieb und mir nicht folgte. Seine Stimme verlor sich, als ich ein Stück weit von ihm weg war. »Okay, wie du willst. Dann bis morgen, Mann.«
KAPITEL 02
Nuller ließ die Peitsche knallen. Jemand musste ihm ans Bein gepinkelt haben – wie auch immer, er hatte uns jedenfalls eindeutig auf dem Kieker. Kein Rumlamentieren, keine Widerworte, Köpfe runter. Englischtest, dreißig Minuten. Das Dumme ist, wenn jemand sagt, ich soll etwas machen, hab ich ein Problem. Ich möchte am liebsten antworten, verpiss dich, ich mach es, wann ich’s für richtig halte. Selbst wenn es was ist, was ich wirklich tun möchte. Wozu das hier nicht zählte. Versteh mich nicht falsch, ich kann lesen, mehr oder weniger, aber es geht nicht sonderlich schnell. Mein Kopf braucht irgendwie Zeit, die Wörter zu ordnen. Wenn ich versuche schnell zu lesen, verheddert sich alles und die Wörter haben keine Bedeutung.
Wie auch immer, ich versuchte jedenfalls diesmal mein Bestes zu geben. Wirklich.
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