Den Tod im Blick- Numbers 1
Schnauze voll. Angesichts des ganzen Hintergrundgetöses, Gelächters und allgemeinen Geplappers blieb er plötzlich stehen. »Okay, Bücher weg, Stifte weg, Papier weg. Alle. Sofort!« Was hatte er vor? »Los, macht schon. Sämtliche Sachen vom Tisch. Wir müssen reden.« Verdrehte Augen, Gähnen – ja, wir haben’s kapiert, jetzt kommt mal wieder eine Predigt. Wir steckten unsere Sachen in die Mappen oder stopften sie in irgendwelche Hosentaschen und warteten auf die übliche Standpauke. »Inakzeptables Verhalten … macht euch nur selbst zum Idioten … mangelnder Respekt …« Aber sie kam nicht.
Stattdessen lief er zwischen den Tischen entlang, blieb bei jedem von uns stehen und sagte irgendwas, bevor er zum Nächsten ging. »Arbeitslos.« – »Kassiererin.« – »Müllabfuhr.« Als er zu mir kam, blieb er nicht einmal stehen. »Putzfrau«, sagte er im Vorbeigehen. Er marschierte wieder nach vorn, drehte sich um und sah uns an. »Okay, was war das für ein Gefühl?«
Wir starrten auf unseren Tisch oder aus dem Fenster. Wir fühlten uns genau so, wie er es wollte. Wie Scheiße. Wir wussten, was uns erwartete, wenn wir die Schule verließen, wir brauchten keinen aufgeblasenen Arsch, um uns daran zu erinnern.
Dann platzte Spinne heraus: »Ich fühl mich gut, Sir. Ist doch bloß Ihre Meinung, oder nicht? Scheiß drauf. Ich kann alles machen, was ich will.«
»Nein, Dawson, genau das ist der Punkt, und ich will, dass mir jeder genau zuhört. Mit dieser Haltung, die ihr zurzeit an den Tag legt, werdet ihr genau dort enden. Aber wenn ihr euch ein bisschen mehr anstrengt, euch konzentriert und wirklich etwas aus eurem letzten Jahr hier macht, könnte es vielleicht anders werden. Wenn ihr euren Abschluss macht und die Schule euch ein gutes Zeugnis ausstellt, könnt ihr weitaus mehr erreichen.«
»Meine Ma sitzt auch an der Kasse.« Das war Charmaine, zwei Plätze von mir entfernt.
»Ja, und daran ist nichts auszusetzen, aber du, Charmaine, könntest die Filialleiterin werden, wenn du nur wolltest. Ihr müsst alle ein bisschen weiterdenken und sehen, was ihr erreichen könntet. Wie sieht eure Vorstellung von der Zukunft aus? Na los, was werdet ihr in einem, in zwei, in fünf Jahren tun? Laura, du beginnst.«
Er ging durch den Klassenraum. Die meisten hatten keine Ahnung. Oder vielmehr, sie wussten, dass seine erste Einschätzung ziemlich korrekt war. Als er zu Spinne kam, hielt ich den Atem an. Der Junge ohne Zukunft, was würde er sagen?
Natürlich stellte sich Spinne dieser Herausforderung. Er saß auf der Rücklehne seines Stuhls, als würde er zu einer größeren Menge sprechen. »In fünf Jahren, da fahr ich in meinem schwarzen BMW durch die Straßen, hab ’nen heißen Sound in der Anlage und jede Menge Zaster.« Die andern Jungs johlten.
McNulty sah ihn mit einem vernichtenden Blick an. »Und wie willst du das schaffen, Dawson?«
»Bisschen hier was, bisschen da was, Sir. Kaufen und verkaufen.«
McNultys Gesicht veränderte sich. »Diebstahl, Dawson? Drogenhandel?«, fragte er frostig. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin wirklich sprachlos, Dawson. Das Gesetz brechen, dealen. Ist das alles, was dir einfällt?«
»Es ist der einzige Weg, wie unsereins an Geld kommt, Mann. Was fahren Sie für ’ne Karre, Sir? Den kleinen roten Astra da draußen auf dem Parkplatz? Als Lehrer? Nach zwanzig Jahren Unterricht? Ich sag Ihnen was, ich werd garantiert nie ’nen Astra fahren.«
»Setz dich hin, Dawson, und halt den Mund. Noch jemand? Was ist mit dir, Jem?«
Woher sollte ich wissen, was aus mir wird? Ich wusste ja nicht mal, wo ich in einem Jahr wohnen würde. Warum tyrannisierte uns dieser Mann, warum ließ er zu, dass wir uns derart quälten? Ich holte tief Luft und sagte so freundlich, wie ich nur konnte: »Ich, Sir? Ich weiß, was ich will.«
»Oh, gut, erzähl.«
Ich zwang mich, ihm scharf in die Augen zu sehen. 25122024. Wie alt war er jetzt? Achtundvierzig? Neunundvierzig? Er würde also um die Zeit seiner Pensionierung abtreten. Auch noch am ersten Weihnachtstag. Das Leben ist grausam. Für den Rest der Familie wäre Weihnachten auf immer versaut. Geschieht ihm recht, diesem grausamen Scheißkerl.
»Sir«, sagte ich, »ich möchte genauso sein … wie … Sie.«
Einen Moment lang hellte sich sein Gesicht auf und ein leichtes Lächeln trat hervor, dann merkte er, dass ich ihn verarschte. Sein Gesicht versteinerte und er schüttelte den Kopf. Sein Mund bildete eine scharfe Linie, du
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