Den Tod im Blick- Numbers 1
konnte, egal was kam. Ich konnte Spinnes Kind haben und wir konnten zusammen leben.
Trotzdem vergaß ich die Zahlen nicht, die ich vorher gesehen hatte. Also wusste ich, wann Karen so weit war, abzutreten. Sie selber wusste es natürlich nicht und ihre Krankheit, ihre Behinderung schafften sie. In den letzten Wochen war sie echt deprimiert. So richtig verzweifelt. Sie hatte weitere Schlaganfälle. Jedes Mal, wenn es ihr ein bisschen besser ging, kam der nächste und machte den ganzen Fortschritt zunichte. Es war beängstigend für sie, ich weiß das.
Sie bat mich um Hilfe, ihr Leben zu beenden. Es erschöpfte sie, die Worte rauszubringen. »Bitte, Jem. Ich kann nicht mehr.« Sie bettelte mich mit den Augen an. Ich sagte ihr, sie solle nicht albern sein. Was wir denn ohne sie tun sollten? Adam liebte seine Omi. Die Tränen flossen. Sie liebte ihn auch, liebte ihn mit Haut und Haaren, aber sie konnte nicht mehr vernünftig denken – sie war an einem dunklen und einsamen Ort.
Ich glaub, die Anspannung, für sie zu sorgen, machte mich echt fertig. Nachts lag ich wach und quälte mich mit schrecklichen Gedanken. Was, wenn es genau das war, was geschehen sollte? Was, wenn es so vorgesehen war, dass ich ihr half, ihr Leben zu beenden?
Als der Tag näher kam, wurde ich immer gereizter. Sie hörte und hörte nicht auf – redete von nichts anderem mehr. Beim letzten Mal, als ich sie zum Klo brachte, war es ganz schlimm, und ich konnte sie kaum noch beruhigen. Als ich sie schließlich hingesetzt hatte, hockte sie einfach nur da, in sich zusammengesunken, und weinte sich die Augen aus dem Kopf – mit der ganzen Erniedrigung, die diese Situation mit sich brachte. Vielleicht ließ ich alles zu lange so laufen. Vielleicht hätte ich den Sozialdienst um Hilfe bitten sollen. Zurückblickend kapier ich, dass es für uns beide zu viel geworden war.
Ich brachte sie wieder ins Bett. Sie war noch immer aufgeregt. Wir waren es beide. Sie versuchte sich umzudrehen und schaffte es, eines ihrer Kissen zu erwischen. »Halt es mir einfach drauf, Jem.« Sie versuchte es sich aufs Gesicht zu legen, schaffte es aber nicht.
»Nein, Karen. Hör auf.«
»Bitte, Jem. Ich bin müde.«
Ich nahm ihr das Kissen aus den Händen. Es wär so einfach gewesen, es zu tun, es ihr aufs Gesicht zu drücken, es mit meinem Gewicht niederzuhalten. Das war es, was sie wollte.
Dann kam Adam ins Zimmer.
»Mama, ich hab Durst. Ich will was zu trinken.«
Das riss mich heraus. Ich half Karen, sich nach vorn zu beugen, und stopfte ihr das Kissen hinter dem Rücken fest.
»Ich glaub, das geht uns allen so, Schatz«, sagte ich. »Komm, lass uns einen Tee machen.«
Ich schüttete etwas Saft für Adam in einen Becher und etwas Tee in einen andern für Karen – wie ich schon sagte, es war, als ob ich zwei Kinder hätte. Ich setzte mich zu ihr und hielt ihr den Becher an den Mund.
»Na bitte«, sagte ich, »mit einer anständigen Tasse Tee sieht die Welt doch gleich ganz anders aus.« Sie schaffte ein halbes Lächeln mit dem Teil ihres Gesichts, den sie noch bewegen konnte.
»Willst du einen Keks?« Sie nickte und ich tauchte den Keks in meinen Tee, damit er schön matschig wurde, und fütterte sie. Dann geschah es. Sie fing an zu würgen. Ich stellte alles beiseite und schlug ihr auf den Rücken. Sie keuchte und rang nach Luft. Ich konnte nichts tun, was half. Ich rannte in den Flur und schnappte das Telefon. Nach zehn Minuten war der Krankenwagen da, doch es war zu spät. Sie war tot.
Adam hatte alles gesehen. Ich hätte das verhindern sollen, aber ich war so beschäftigt gewesen, Karen noch irgendwie zu helfen.
»Was ist mit Omi?«, fragte er. Ich nahm ihn mit ins Wohnzimmer und setzte ihn auf meinen Schoß.
»Sie ist fort, Schatz. Sie ist tot.«
»Wie Papa?« Ich erzählte Adam ständig von seinem Vater. Ich wollte, dass er über ihn Bescheid wusste, wie besonders er war.
»Ja, so wie Papa.«
Das ist das andere, was ich geschafft hab, verstehst du? Ich hab Adam großgezogen, bin für ihn Mama und Papa gewesen. Ich weiß, ich bin nicht die Einzige, bei der das so ist. Es gibt Tausende, Millionen Alleinerziehende, aber wenn du es selbst bist und deine eigene Kindheit nicht gerade rosig war, kommt es dir wie ein Riesending vor, deinen fünfjährigen Sohn anzuschauen und zu wissen, dass er gesund und glücklich ist. Wenn du mich vor fünf Jahren gefragt hättst, ob ich mir vorstellen könnte, Mutter zu sein, noch dazu eine gute, hätt ich dich
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