Denen man nicht vergibt
nicht aufgefallen, viele von der Zeit vor dem großen Erdbeben. Sie zog die Tür auf und betrat das Morddezernat. Der winzige Empfangsbereich war leer, niemand saß hinter der hohen Theke. Sie verharrte einen Moment, dann ging sie hinein. Sie hatte schon viele solcher Polizeistationen im Fernsehen gesehen, und dieser Raum hier unterschied sich kaum davon, bloß dass er viel kleiner war. Etwa ein halbes Dutzend wuchtiger, zerkratzter Schreibtische in hellem Eichenholz standen paarweise zusammen, davor und daneben alte, ausladende Holzstühle. Auf jedem Tisch stand ein Computer, überall lagen Papierstapel, Aktenordner, Bücher und jede Menge Abfälle herum, dazwischen Telefone. Was sie am meisten verblüffte, war die relative Ruhe. Kein Fluchen, kein Gebrüll, kein Chaos. Bloß das stete Summen zahlreicher, ins Gespräch vertiefter Stimmen. Auf einer Seite des Großraumbüros befanden sich zwei kleine, fensterlose Verhörzellen, die aussahen wie schalldichte Särge. Aus dem einen Raum hörte sie dann doch ein paar laute Stimmen.
Etwa acht Männer standen oder saßen an ihren Schreibtischen, telefonierten oder arbeiteten am Computer. Frauen sah sie keine.
Ein halbes Dutzend anderer Männer stand herum, einige wühlten in den verkratzten alten Metallaktenschränken, die sich an jeder Wand entlangzogen, manche studierten nur ihre Fingernägel, und einige blickten besorgt drein. Sie fragte sich, ob das Kriminelle waren oder Anwälte, vielleicht beides. Ein Jugendlicher mit knallrot gefärbten Haaren und Hosen, die so tief hingen, dass man den Ring in seinem Nabel sehen konnte, kam aus einer Verhörzelle geschlurft, zwinkerte ihr zu und schnalzte mit den Lippen. Der muss ja ganz schön verzweifelt sein, dachte sie, wenn er sich an mich ranmacht.
Aber außer dem Karottenkopf schenkte ihr niemand Beachtung. Sie fragte sich, ob hier überhaupt jemand bereit wäre, ihr zuzuhören. Alle sahen so gestresst, so beschäftigt aus.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
Es war eine Polizistin in Uniform. Kein Lächeln lag auf ihren Lippen. Andererseits wirkte sie aber auch nicht so, als würde sie Nägel zum Frühstück verspeisen.
»Ich muss mit dem Detective sprechen, der für den Mord an Vater Michael Joseph zuständig ist.«
Die Frau zog die Braue hoch. »Hier in San Francisco sagen wir nicht Detective. Hier heißt es Inspektor.«
»Das wusste ich nicht. Danke. Dürfte ich dann den Inspektor sprechen? Ehrlich, ich will niemandem die Zeit stehlen.«
Die Beamtin musterte sie von oben bis unten, und das Ergebnis war anscheinend alles andere als erfreulich. Schließlich sagte die Polizistin: »Also gut. Ich sehe, dass Inspektor Delion an seinem Schreibtisch ist. Ich bringe Sie zu ihm.«
Ein Mann saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Stuhl neben Inspektor Delions Schreibtisch. Seine Haltung, die Farbe seiner Haare kamen ihr vage bekannt vor. War das ein Straftäter, der gerade verhört wurde?
Die Polizistin sagte: »He, Vince, ich hab da eine Frau für dich, die mit dir über den Mord an Vater Michael Joseph reden will.«
»Ach ja?« Gestresst und ungehalten wie jeder andere im Raum, blickte er auf. Dann wurde er auf einmal ganz still und musterte sie reglos. Sie wusste genau, wie sie aussah. Würde er gleich verächtlich reagieren? Nein, er saß nur da, starrte sie an und zwirbelte dabei seinen enormen Schnurrbart. Er sagte nichts, wartete einfach ab.
»Ja, ich muss Sie sprechen, Sir.«
Da erhob sich der Mann auf dem Stuhl, drehte sich um und schaute sie an. Fassungslos starrte sie zurück. Sie musste tot sein, das war die einzige Möglichkeit. Sie fühlte sich nicht tot, aber was wusste sie schon? Da stand er und schaute sie an, und er war tot, sie hatte ja das Einschussloch in seiner Stirn gesehen, hatte seine Augen gesehen.
Sie gab ein leises Stöhnen von sich, nichts weiter, und sackte dann, zum ersten Mal in ihrem Leben, ohnmächtig zusammen.
Dane erwischte sie, bevor sie sich den Hinterkopf am nächsten Schreibtisch aufschlagen konnte. Der dort sitzende Inspektor zuckte zurück und rief: »He!«
»Schon gut, ich hab sie«, sagte Dane.
»Verdammt, was ist los mit der Frau?« Delion stieß seinen Stuhl zurück und stützte sich mit gespreizten Händen auf der Schreibtischplatte ab. »Lieber Himmel, und das um acht Uhr morgens! Kommen Sie, Dane, bringen Sie sie ins Büro des Lieutenants. Sie und der Captain sind im Moment bei einer Besprechung mit Chief Kreider, es ist also frei.«
Dane hob sie hoch und trug sie in das
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