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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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Ort: das kriegsgeschundene, von der Drogengeißel heimgesuchte Kolumbien. Fünfundzwanzig Jahre zuvor war Weisman berichtet worden, eine Gruppe kolumbianischer Visionäre sei zu folgender Ansicht gelangt: Wenn es gelänge, an dem unwirtlichsten Ort der Welt dauerhaften Frieden zu schaffen und für Wohlstand zu sorgen, dann sei das überall möglich. Und sie hatten sich darangemacht, dies in die Tat umzusetzen.
    Sechzehn Stunden lang fuhr Weisman im Jeep vorbei an Straßensperren, die mal von der Armee, mal von Paramilitärs oder Guerillatruppen errichtet worden waren, um mit eigenen Augen zu sehen, was jene Visionäre in einer Umgebung aufgebaut hatten, die unwirtlicher nicht hätte sein können  – die außergewöhnliche Gemeinde Gaviotas.
    Ich hörte zum ersten Mal 1988 von Gaviotas, als ich einen Auftrag des New York Times Magazine erhielt, ein rund 20-seitiges »Porträt von Kolumbien« zu schreiben. Damals war ich im Rahmen eines Fulbright-Forschungsstipendiums schon seit zwei Monaten in dem Land, lange genug, um zu wissen, welch schwierige Aufgabe dies sein würde. Es wäre nur allzu leicht gewesen, eine weitere Geschichte über den aktuellen Kreislauf von Bombenanschlägen durch Drogenbanden, Mordanschlägen der Paramilitärs und Vergeltungsschlägen der Guerilla aufzutischen. Doch das wirklich Traurige an la guerra sucia  – dem anhaltenden »schmutzigen Krieg« – war, dass Kolumbien sehr viel mehr war als seine betäubenden Schlagzeilen, etwas, das jedermann vergessen zu haben schien.
    Es war vor allem mehr als die Kaffee- und Kokaplantagen, die sich die Menschen meines eigenen Landes vorstellten. Im Unterschied zu vielen anderen ums Überleben kämpfenden Ländern, die man in jene niedere, als Dritte Welt bekannte Kaste verbannt hatte, war Kolumbien sowohl unglaublich reich an Ressourcen als auch an qualifizierten Kräften, um sie nutzen zu können. Seine Alphabetisierungsrate entsprach oder übertraf sogar die der meisten Länder auf Erden, einschließlich meines eigenen, und Dutzende gute kolumbianische Universitäten brachten brillante Wissenschaftler, Ingenieure, Schriftsteller, Techniker und Wirtschaftsführer hervor. Kolumbien hatte von Textilien bis zur Buchbinderei bewährte Industrien vorzuweisen, mehr als hundert exportierbare Feldfrüchte, wirklich ausgedehnte Mineralvorkommen (Kohle, Öl und Smaragde), genug frisches Wasser, um hinsichtlich des Wasserkraftpotenzials weltweit an dritter Stelle zu rangieren, und wohl das üppigste Ökosystem des Planeten.
    Letzteres faszinierte mich so sehr, dass ich den Direktor der kolumbianischen Nationalparks bat, mir zu sagen, welcher Ort am besten den erstaunlichen Artenreichtum seines Landes veranschaulichen würde. Die Serranía de la Macarena, antwortete er, Kolumbiens ältestes Naturschutzgebiet, das aus einer rund 130 Kilometer langen Bergkette besteht und in dessen Wäldern und Flüssen, wie man annimmt, mehr Arten zu Hause sind als in jedem vergleichbaren Gebiet der Welt. Sie lag nur wenige Stunden südöstlich von Bogotá. »Aber«, warnte er mich, »Sie können dort nicht hin. Es ist zu gefährlich.«
    Er erklärte, dass sich unter dem Dschungeldach dieses unvergleichlichen Kleinods ein wichtiger Kommandostützpunkt der Guerilla verbarg, in dessen Umkreis eine zunehmende Anzahl von Kokapflanzern immer größere Teile dieses ökologischen Gartens Eden durch eine Monokultur von zarten lindgrünen Sträuchern ersetzte. Natürlich musste ich dorthin. Die Macarena schien das perfekte Symbol zu sein, um eine Nation zu porträtieren, die von der Natur so großzügig beschenkt, aber auch verflucht war – eine Nation, die ich zunehmend als einen Mikrokosmos all dessen wahrnahm, was in unserer überreichen, heimgesuchten Welt zugleich quälend und vielversprechend ist.
    Eine hilfsbereite kolumbianische Korrespondentin, die für eine sowjetische Nachrichtenagentur arbeitete, stellte für mich den Kontakt zu den marxistisch-leninistischen Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia her, die die Macarena besetzt hielten, sodass ich sicheres Geleit aushandeln konnte. Nach einer Tagesreise per Bus und zwei Tagen Fußmarsch erreichte ich ihr beeindruckendes Bambuslager. Es folgten zwei Tage höflichen Plauderns mit Rebellen- comandantes über politische Grundsätze, bevor mich

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