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Bollinger und die Barbaren

Titel: Bollinger und die Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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|5| 1. KAPITEL
    I ch habe den Fehler gemacht zu glauben, alles sei so, wie es aussieht. Aber nichts ist so, wie es aussieht. Es gibt hinter
     allem eine andere Wahrheit. Die Vergangenheit.
    Schauren war ein schwerer Brocken. Ich war nach Schauren gekommen, weil ich in Saarbrücken einen Menschen erschossen hatte.
     Der Mann war Juwelier gewesen, er hatte einen Waffenschein besessen und eine Waffe getragen, um sich vor Überfällen zu schützen.
    Sie hätten mich gerne in die Wüste geschickt, aber Dr. Backes, mein alter Lehrer auf der Polizeischule, hatte seine Hand über
     mich gehalten. So war ich nach Schauren gekommen.
    Ich hatte geglaubt, das Revier an der deutsch-französischen Grenze in ein paar Monaten auf Vordermann bringen zu können. Dann
     wollte ich meinen Nachfolger einarbeiten und wieder in die Stadt zurückkehren. Dorthin, wo mich andere Aufgaben erwarteten.
     Je länger ich aber in Schauren war, desto mehr Arbeit musste ich bewältigen. Wenn man erst einmal in das Leben an der Grenze
     eintaucht, kommt man so schnell nicht wieder nach oben.
    Ich gebe zu, ich habe Schauren unterschätzt. Nicht, dass ich dort mit großen Kriminalfällen zu tun gehabt hätte – das Revier
     wurde auf den europäischen Polizeiakademien immer wegen seiner Kriminalstatistiken lobend erwähnt: Über Jahrzehnte hinweg
     war die Kriminalitätsrate hier gleich null. Das, was mich mehr und mehr aufsog, war der Alltag. Die vielen Kleinigkeiten.
    Meine französischen Kollegen machten es sich einfach. Ich aber war nicht nach Schauren gekommen, um mir den Schlendrian |6| von Louis Straßer und Alain Miller anzugewöhnen – ich war gekommen, um zu beweisen, dass ich in der Lage war, dieses verkommene
     Revier auf den Stand moderner Polizeiarbeit zu bringen. Nur – das kostete mehr Kraft und Zeit als vorgesehen. Ich kam nicht
     mehr zu meiner theoretischen Arbeit, ich ließ die Fortbildungen an der Akademie sausen, ich vergrub mich ganz und gar in die
     Probleme von Schauren. Ich war mir sicher, dass ich sie würde lösen können. Ich wollte Schauren als Sieger verlassen. Ich
     wollte mich nicht geschlagen geben. Nicht in Schauren. Nicht in diesem Nest. Aber ich wusste ja auch noch nicht, was mich
     erwartete. Ich wusste nicht, dass ich bisher nur die Spitze des Eisberges gesehen hatte.
     
    A bends kam ich immer wie gerädert nach Hause. Meistens war es schon so spät, dass ich sogar die Hauptnachrichten im Fernsehen
     verpasste. Am Mittag gingen wir ins »Forêt de Schauren« zum Stammessen, und abends ernährte ich mich bescheiden, denn ich
     hatte zugenommen, seit ich in Schauren war. Ich las die ›Saarbrücker Zeitung‹ vom Tage, die ich morgens nicht einmal hatte
     aufschlagen können, und aß dabei eine Scheibe Toast mit Käse – etwas anderes hatte ich selten im Haus.
    Normalerweise bekam ich in meiner kleinen Einliegerwohnung im Haus des Bürgermeisters keinen Besuch. Wer etwas von mir wollte,
     fand mich im Polizeirevier. Privaten Umgang hatte ich hier keinen. Mit wem auch? Ich hatte kein Privatleben – sieht man mal
     von den heimlichen Treffen mit Lotte ab.
    Als es an diesem denkwürdigen Abend klingelte, hatte ich mich gerade mit einem Bier vor meinen tragbaren Fernseher gesetzt,
     um die Spätnachrichten anzuschauen. Wenigstens das. Der Mensch setzt seine Würde aufs Spiel, wenn er vor lauter Hast seine
     Gewohnheiten vergisst.
    Lotte war in ihrer weißen Küchenschürze, die mit den Rüschen. Ihre Stirn glänzte – offensichtlich hatte sie eine Schönheitscreme
     aufgetragen. Ihre Oberarme waren nackt. Den Lippenstift |7| musste sie frisch nachgezogen haben – so unternehmungslustig, wie ihr Mund leuchtete.
    »Ich habe ein bisschen was gekocht und dachte ...«
    Ich stellte die Bierflasche zurück in den Kühlschrank, nahm das Jackett von der Garderobe und wollte hineinschlüpfen – es
     war schon spät, und ich wollte keine Zeit mit vielen Worten verlieren. Lotte zog mir das Jackett weg.
    »Nicht doch! Ganz formlos. Wir sind unter uns ... Pierre ist weg, auf Dienstreise in Deutschland.«
    »Aber ich kann doch nicht in Hemd und Pantoffeln zum Abendessen kommen.«
    »Und ob du das kannst. Wie gesagt: Wir sind unter uns.«
    »Wie sieht denn das aus, wenn ich bei dir in der Küche sitze – wie dein Gatte?«
    »Wenn dich jemand sieht, dann fragt er sich sowieso, was du so spät abends noch bei der Frau des Bürgermeisters treibst –
     ob du nun im Schlafanzug bist oder im Frack.«
     
    S ie führte mich an der

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