Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
scheren.
Christine de Pizan ahnt nichts Gutes. Wenn ein Land moralisch so tief gefallen ist, kann das in der Folge nur Unglück bringen,
und tatsächlich nimmt die Unruhe zu. Seinen Anfang nahm das Ganze bereits nach dem Tod Karls V., als ein Machtkampf ausbrach
zwischen den Häusern Burgund und Orléans, dem, wie berichtet, Ludwig von Orléans zum Opfer fiel. Ludwigs Sohn ruft die »Armagnacs«
zu Hilfe und es entbrennt ein Kampf bis aufs Messer und ohne Rücksicht auf Verluste. Einen neuen Anlass bietet die Enthauptung
von Jean de Montaigu, einem ehemaligen Ratgeber des Königs Karls V., auf Befehl von Johann Ohnefurcht 1409. Man kommt nicht umhin, der zu dieser Zeit vielfach verbreiteten Tötungsmethode des Köpfens symbolische Bedeutung zuzumessen,
als ginge es darum, die Leute ihres eigenen Kopfes zu berauben, sie am Denken zu hindern. Eine in mancher Hinsicht »kopflose«
Zeit, in der Christine gerade ihren Verstand einsetzt, bei klaren Sinnen bleibt und darauf hinweist, dass Handlungen ohne
Beteiligung des Denkens mörderisch enden können.
Frankreich spaltet sich. Der Süden erhebt sich gegen den Herzog von Burgund. Die Burgunder kämpfen gegen die Armagnacs, viele
Soldaten sterben. Christine schreibt sich in der
Klage über die Toten des Bruderkrieges
den Kummer vonder Seele. Der Krieg aber geht weiter, ohne Schonung der Zivilbevölkerung. Ein brutales Hauen, Stechen, Morden und Plündern
ist im Gange. Wie immer kann Christine nicht einfach zusehen. Ihre Waffe ist die Feder, und so schreibt sie einen Traktat
mit dem Titel
Das Buch von den Heldentaten und der Ritterlichkeit,
worin sie sich auseinandersetzt mit der Rolle, die im Kriegsfall die Verteidigung zu spielen habe. Damit aber steht sie im
Widerspruch zur Mehrzahl der Pariser, die ihre Angriffslust offen zur Schau stellen, indem sie zum Beispiel Burgunderkappen
tragen. An Frieden denkt hier fast keiner. Das wilde Gemetzel scheint die Menschen in eine Art Rausch zu versetzen.
Mit einer weiteren Arbeit wendet sich Christine an den Dauphin, von dem sie sich für die Zukunft eine Art Gesinnungsänderung
erhofft. Ihr
Buch vom Frieden
widmet sie Ludwig von Valois, dem Sohn Karls V I. Darin lässt sie Frau Umsicht dem Dauphin Ratschläge für einen dauerhaften Frieden geben.
Der Krieg hat bereits Unmengen von Geld verschlungen. Das Volk meutert. Es beschuldigt die Adeligen der Bereicherung. Insgesamt
herrscht eine feindselige Stimmung: Jeder setzt jedem nach, man verfeindet sich und verleumdet einander. Christine schreibt
weiter am Buch über den Frieden und rät dem Dauphin, alles zu tun, um die Liebe seiner Untertanen zu erringen. Er solle milde,
gütig und wahrhaftig sein. Christine zählt die Tugenden auf, die sie schon an Karl V. fasziniert hatten. Anfang 1414 schließt
sie das Werk ab, aber es kommt ganz anders, als diese Streiterin für Frieden und Gerechtigkeit es sich wünscht.
Da die Franzosen schon immer gern die Engländer um Hilfe baten, weiß Heinrich V. von England, dass er in Frankreich kein schweres
Spiel haben wird. Das zerrisseneLand ist leichte Beute, und so erobert England nach und nach die weiteren Provinzen Frankreichs. Christine leidet sehr unter
diesem Krieg, der kein Ende nimmt, und sieht keinen Sinn mehr in ihrem Schreiben. Was haben all ihre Texte bewirkt? Zum ersten
Mal resigniert sie, und 1421 sieht sie keine andere Möglichkeit mehr, als sich aus der Welt zurückzuziehen ins Kloster von
Poissy zu ihrer Tochter. Im Konvent will sie ihr Leben zu Ende bringen. Im Kloster erreicht sie 1426 die schlimme Nachricht,
dass ihr Sohn Jean gestorben ist und eine Witwe mit drei Kindern hinterlässt. Ein Schicksalsschlag mehr, auf den sie nur mit
Beten reagieren kann. Sie hat mit dem Leben draußen in der Gesellschaft abgeschlossen und glaubt nicht, dass es noch einmal
einen glücklichen, hoffnungsvollen Augenblick geben wird für sie. Christine, die immer mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen
und Gerechtigkeit gelebt hat, kann nun, da sie nichts als Zerfallserscheinungen erblickt, nicht mehr froh werden. Ihre innere
Zufriedenheit ist stets abhängig von dem, was draußen in der Welt passiert. Gerade hierin zeigt sie sich als Frau ihrer Zeit,
die festes Mitglied der Gesellschaft bleibt und nicht von einem persönlichen Glücksstreben geprägt ist, wie wir heutigen Menschen
es kennen. Zwar nimmt Christine in ihrem Denken Positionen ein, die sehr modern klingen. Sie
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