Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
erkennen, was das Wesentliche des Lebens ausmacht,
worauf wir unser Dasein bauen wollen. Bei Christine hat Frau Vernunft nicht wie üblich ein Zepter in der Hand, sondern einen
Spiegel. Sie herrscht nicht, sondern weist den Menschen darauf hin, dass er in der Reflexion einen Blick in das eigene Innere
werfen muss, um seine Pläne zu prüfen und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Vernunft bestimmt die theoretische
Seite der Philosophie. Christine erlebt ihre Welt als eine aus den Fugen geratene. Diese Gesellschaft muss von Grund auf erneuert
werden, man kann nicht nur hier und da ausbessern. Das wäre nichts als Flickwerk. Deshalb tritt Frau Vernunft als Erste auf.
Die zweite Dame ist die »Frau Rechtschaffenheit«. Sie versteht sich als Botin des Himmels. Sie hilft den Menschen dabei, das
Gute zu bewirken, Gerechtigkeit walten zu lassen, den Armen zu helfen. Die Rechtschaffenheit hat eher mit dem Alltagsleben
zu tun als die Vernunft und ist zuständig für ein geregeltes Miteinander unter den Menschen. Sie hält ein Lot in der Hand,
damit Bewertungsmaßstäbe gefunden werden können, denn es ist nicht immer einfach, das Gute vom Schlechten zu trennen. »Dieses
funkelnde Lot, das du mich anstelle eines Zepters in der rechten Hand halten siehst, ist die gerechte Regel, die Recht vom
Unrecht trennt und den Unterschied zwischen Gut und Böse anzeigt: Wer ihr folgt, geht nie fehl.« 10
Die Rechtschaffenheit hilft den Menschen, die Geheimnisse Gottes zu deuten. Sie ist die Vermittlerin zwischen Gott und den
Menschen. Auch hier zeigt sich dietiefe Religiosität Christines. Nie würde sie an der Allmacht und Güte Gottes zweifeln. Von ihm hat der Mensch das Maß für
ein gutes Leben zu nehmen. Aber das Wissen darum fliegt ihm nicht zu. Er muss kämpfen dafür, das Denken einsetzen, der Glaube
allein reicht nicht. Es gehört eine Willensanstrengung dazu, will man das Gute in der Welt verwirklichen.
Als dritte Tugend schließlich stellt sich die »Frau Gerechtigkeit« vor. Sie hat insofern eine Sonderstellung, als sich die
zwei anderen Tugenden auf sie beziehen. Die Gerechtigkeit gilt für jeden, niemand sollte sich ihr verschließen. »Ich lehre
jeden vernunftbegabten Mann und jede vernunftbegabte Frau, der oder die mir Glauben schenken will, zunächst sich selbst zu
bessern, zu erkennen und sich wieder in die Gewalt zu bekommen, dem Mitmenschen das zuzufügen, was man selbst erfahren möchte,
alles gerecht aufzuteilen, die Wahrheit zu sagen, die Lüge zu meiden und zu hassen und alles Lasterhafte von sich zu weisen.« 11
Die Aufgabe der Gerechtigkeit ist es vor allem, die Stadt, die es zu bauen gilt, mit würdigen Frauen zu bevölkern. Außerdem
wird sie beim Errichten von Befestigungen und starken Toren helfen und Christine den Schlüssel aushändigen. Die Gerechtigkeit
stellt den direkten Bezug zu Gott her und ist himmlischen Ursprungs. Ist sie einmal erkannt, so herrscht sie unwandelbar und
absolut. Auch sie ist nicht einfach gefühlsmäßig zu erfassen.
Die drei Frauen erscheinen Christine ungetrennt wie eine einzige Person. In der Tat gehören sie zusammen und befruchten einander
gegenseitig. Keine kann ohne die andere sein, und nur gemeinsam werden sie den Plan von der »Stadt der Frauen« verwirklichen
können. Die Vernunftlegt den Grund im Blick auf Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, die wiederum die Vernunft als den Boden, auf dem sie stehen,
nicht aus den Augen verlieren dürfen. Wenn Christines Vater noch hätte erleben können, mit was für einem ausgeklügelten und
spannenden Werk seine Tochter die Philosophiegeschichte bereichert! Er hätte Freude daran gehabt und wäre stolz auf seine
Tochter gewesen. Ob ihre Mutter noch lebt und die denkerische Entwicklung Christines mitbekommt, wissen wir nicht. Seit dem
Tod ihres Mannes ist uns nichts über sie überliefert. Sie teilt das Schicksal vieler Frauen jener Zeit: Mit dem Tod eines
Mannes verliert sich auch die Spur der Frau an seiner Seite.
Doch weiter in Christines Schrift: Nachdem die drei Damen ihre Reden beendet haben, wirft sich Christine ihnen zu Füßen und
dankt. Frau Vernunft drängt darauf anzufangen, denn es sei keine Zeit zu verlieren: »Jetzt fang an, Tochter. ... Nimm die Spitzhacke deines Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo es mein Lot dir anzeigt:
Ich werde dir mit meinen eigenen Schultern helfen, die Erde fortzuschaffen.«
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