Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
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Indem Christine die drei Tugenden vorstellt, gibt sie Instanzen an, mit deren Hilfe es gelingen könnte, das Leben der Menschen
zu ordnen. Das ist wichtig für sie, nachdem sie erlebt hat, auf welche Abwege Menschen geraten können, wie ungerecht und verleumderisch
sie zuweilen urteilen. Zu ihrer Zeit herrscht mehr Chaos als Ordnung. Ihre Situation als Witwe und als kritisch denkende Frau
hat sie immer wieder in schwierige Situationen geraten lassen, in denen sie auf die Ritterlichkeit und Moral der Männer nur
äußerst selten hoffen konnte. Ihr Anliegen ist es, vor allem den Frauen zu helfen, ohnejedoch den Blick auf alle Menschen zu verlieren. Der Verfall der Sitten ist ihr Thema, und sie will einen Weg zeigen, wie
hier eine Veränderung möglich wäre. Die konkrete Erfahrung stachelt den Verstand an, und dieser lässt nicht locker, bis er
Licht ins Dunkel bringt.
Die drei Damen sind allegorische Figuren, die die verschiedenen Tugenden darstellen. Zusammen verkörpern sie für Christine
die Idee des Guten, deren Urheber Gott ist. Damit ist Christine Philosophin und Theologin zugleich. Die Suche nach der Wahrheit
und die Auseinandersetzung mit Gott sind für sie nicht voneinander zu trennen. Die Denkmethode Christines ist der ihrer Zeit
angemessen. Abstrakte Dinge werden ins sinnlich Wahrnehmbare übertragen. So können die Menschen besser verstehen, was die
Autorin meint. Und darauf kommt es ihr an. Sie schreibt nicht für sich, sondern für die Menschen, vor allem für die Frauen.
Und sie hat den Anspruch, mit ihren Werken erfolgreich zu sein. Sie will kein System erbauen, das dann in den Bibliotheken
verschwindet, sondern sie wünscht sich, dass ihre Schriften eine direkte Wirkung auf ihre Zeitgenossen haben: ein hoher Anspruch!
Neben dieser komplexen Arbeit an ihrem großen und schwierigen Werk setzt sich Christine weiterhin mit der Tagespolitik auseinander.
Und die ist zum Verzweifeln. Karl VI. erleidet immer häufiger Anfälle von Geisteskrankheit und hat die Macht längst an andere
abgegeben: Herzöge, Geistliche und Universitätsprofessoren. Jean Petit, ein Gelehrter an der Universität, bekommt sehr viel
Einfluss im Königshaus, unter anderem auch auf die Meinung des Herzogs von Burgund, Johann Ohnefurcht, Sohn von Philipp dem
Kühnen.
Im Februar 1408 findet im Sitzungssaal des Palastes ein Treffen statt, an dem viele der renommiertesten Hochschulprofessoren
teilnehmen. Das Thema der Debatte ist die Frage des Tyrannenmordes. Ist es moralisch zu verantworten, einen Tyrannen zu töten?
Auch für Christine ist diese Frage natürlich interessant, wie alles, was mit Moral zu tun hat. Ein konkreter Fall bietet Anlass
zu einer solchen Diskussion: Man hat Ludwig von Orléans, den Bruder des Königs, ermordet, und nun geht es darum, diese Tat
im Nachhinein zu rechtfertigen, indem man den Getöteten der Tyrannei bezichtigt. Jean Petit hat seine große Stunde, wobei
das mit Ludwig und der Tyrannei nicht so einfach ist, wie man es sich vorgestellt hat, aber es gibt ja andere, nicht minder
gefährliche Eigenschaften, die einen Mord rechtfertigen können. Jean Petit fährt schwere Geschütze auf: Er bezichtigt Ludwig
der Zauberei, wofür die Menschen des Mittelalters immer ein offenes Ohr haben. Um seine Anschuldigungen zu beweisen, greift
er tief in die Klatsch- und Tratschtüte, blendet mit seiner gekonnten Rhetorik, und so gelingt es dem Auftraggeber des Mordes,
Johann Ohnefurcht, vom König begnadigt zu werden.
Für Christine ist das ein skandalöser Vorgang. Frau Meinung hat es wieder einmal geschafft, über logisches Argumentieren zu
siegen. Überhaupt scheint diese Dame gerade jetzt im Land die Oberhand zu haben. Eine gewisse Einfalt herrscht vor und die
lässt sich leicht gängeln von der Arroganz der Herrscher und Professoren. Sprache wird als Mittel zur Manipulation der öffentlichen
Meinung eingesetzt. Rhetorik ist zur Kunst demagogischer Beeinflussung geworden.
All dies sind Probleme, die Christines Kritik herausfordern.Wie weit entfernt man doch noch von Toleranz und einem freien Denken ist. Solange es möglich ist, Menschen der Zauberei zu
bezichtigen, hat die Vernunft einen schweren Stand.
Der geniale Redner und Meisterwortverdreher Jean Petit wird reich belohnt für seine Ratgeberdienste; er wohnt fortan in einem
prächtigen Haus und lebt vortrefflich. Er hat die Gunst der Stunde für sich genutzt, ohne sich um Gerechtigkeit zu
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