Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
bleibt aber auch eine Frau des
Mittelalters, eingebunden in einen Kosmos, aus dem Gott nicht wegzudenken ist und in dem das Individuum noch längst nicht
die Rolle spielt, die es heute einnimmt.
Das Jahr 1429 bringt noch einmal eine Überraschung für die Philosophin hinter Klostermauern. Die Belagerung von Orléans durch
den Feind nimmt einen anderen Verlaufals die Belagerungen anderer französischer Städte. Die Gerüchteküche brodelt und Christine erfährt, dass es da eine junge
Frau geben soll, die es geschafft hat, den Feind zu vertreiben. Aus Lothringen soll sie sein, ein einfaches Mädchen. Angeblich
hat sie erzählt, sie sei gekommen, um Frankreich mit Gottes Hilfe beizustehen. Tatsächlich ist Orléans noch frei. Ein Wunder?
In den Annalen des Parlaments von Paris ist zu lesen: »Nach dem letzten Sonntag sind die Soldaten des Thronfolgers nach mehreren
Sturmangriffen, die ständig mit Waffengewalt verstärkt wurden, sehr zahlreich in die Bastei eingedrungen, die William Glasdale
und andere englische Hauptleute und Bewaffnete auf Befehl des Königs (Heinrich VI. von England) ebenso wie den Turm am Ende
der Loire-Brücke von Orléans besetzt hielten. An diesem Tag sind die Hauptleute und Bewaffneten, die die Belagerung vorgenommen
haben, abgezogen ... und haben die Belagerung abgebrochen, um gegen die Feinde zu kämpfen, in deren Begleitung sich eine Jungfrau befand, die
allein ein Banner trug.« 13
Die »Jungfrau von Orléans«, eine Erleuchtete oder eine Verrückte?
Christine schreibt in Versform diese Geschichte auf. Zum ersten Mal nach unendlich langer Zeit schöpft sie wieder Hoffnung.
Sie kann einen besonderen geschichtlichen Moment miterleben. Wunderbar ist für sie gerade auch, dass es eine Frau ist, die
Frankreich Glück gebracht hat. Hat sie nicht ein Leben lang darum gekämpft, dass man die Frauen achten solle? Und nun kommt
dieses Mädchen, ganz allein, voller Entschlusskraft und Willensstärke.
Johanna verkörpert in Christines Augen die Männertugend der Ritterlichkeit. Sie gehört in den Kreis der »edlen Frauen«, die
ihre »Stadt der Frauen« bewohnen sollen.Unabhängig ist sie und stark, kennt die Gesetze des Krieges und schafft doch Frieden. Sie ist gottestreu und weiß, dass sie
sich auf die Hilfe Gottes verlassen kann. Christine hegt schwesterliche Gefühle ihr gegenüber.
Die Professoren jedoch sprechen sich gegen Johanna aus. Sie fordern das Todesurteil. Beim Schreiben dieses Gedichts hatte
Christine schon ganz leise geahnt, dass die tapfere Johanna bestraft werden würde dafür, dass sie es gewagt hatte, sich als
Frau an die Spitze eines Heeres zu stellen. Die Zeit allgemeiner Frauenfeindlichkeit ist also noch keineswegs vorbei.
Wie recht Christine mit ihrem Misstrauen hat, erlebt sie nicht mehr. Die Umstände ihres Todes sind unbekannt. Wahrscheinlich
stirbt sie nach 1430. Auch über zeitgenössische Reaktionen auf ihr Gedicht liegen keine Quellen vor.
Christine de Pizans Wirkung ist jedoch unumstritten. Durch all die folgenden Jahrhunderte hindurch wird sie gelesen. Ein Problem
für uns Heutige ist, dass sie in mittelfranzösischer Sprache geschrieben hat und viele ihrer Texte noch nicht übersetzt sind.
Die Stadt der Frauen
beispielsweise liegt erst seit 1986 in deutscher Übersetzung vor. Hier bleibt noch einiges zu tun, um dieses spannende philosophische
Lebenswerk in all ihren Texten zugänglich zu machen.
Christines philosophische Erörterungen sind immer geprägt durch ihre persönlichen Erfahrungen. Ihr unmittelbares Erleben ist
Ausgangspunkt für ihr Denken. Dass sie sich fast ausschließlich ethischen Fragen zuwandte, liegt in dem begründet, was sie
als moralischen Niedergang in der eigenen Zeit beobachten und in ihrem alltäglichen Leben erfahren konnte. Wie viele ihrer
Nachfolgerinnen in derGeschichte der Philosophinnen musste sie sich einen Großteil der formalen Bildung selbst aneignen. Ihre große Begabung zum
klaren und vorurteilslosen Denken hat sie erkannt und genutzt, ohne jemals im Ernst ihrer Zeit den Rücken kehren zu wollen.
Christine de Pizan war eine große Denkerin des ausgehenden Mittelalters mit einem visionären Blick in die Zukunft.
EINES TAGES BETRITT EINE JUNGE FRAU die Wohnung ihrer Freundin und fliegt ihr freudig erregt entgegen. »Gestern habe ich einen
Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, dass es sehr leicht ist, sich umzubringen.« 1 Sie öffnet ihr Kleid und zeigt
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