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Denken Sie nicht an einen blauen Elefanten!

Titel: Denken Sie nicht an einen blauen Elefanten! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Havener
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Chancen
     stehen eins zu, na, sagen wir zehn›, sagte er, während er das |187| Thermometer herunterschüttelte. ‹Und diese Chance liegt in ihrem Willen, am Leben zu bleiben. Die Art, wie die Leute beim
     Totengräber Schlange stehen, macht die ganze Arzneikunst lächerlich. Ihre kleine Dame ist sich darüber im Klaren, dass es
     nicht besonders mit ihr steht. Hat sie irgendetwas Besonderes, woran sie denkt?› – ‹Sie möchte einmal die Bucht von Neapel
     malen›, sagte Sue.
    ‹Malen? So ein Blödsinn. Hat sie nicht irgendwas, wobei es sich auch lohnt, öfter daran zu denken? Zum Beispiel einen Mann?›
     – ‹Einen Mann?›, fragte Sue, und ihre Stimme klang wie der scharfe Ton einer Maultrommel. ‹Ist ein Mann wert, dass – aber
     nein, Doktor; sie hat nichts dergleichen.›
    ‹Das ist natürlich schlecht›, sagte der Doktor. ‹Ich werde alles anwenden, was die Wissenschaft uns gibt, soweit es in meiner
     Macht steht. Aber sobald meine Patientin die Anzahl der Fahrzeuge bei ihrem Leichenzug zu zählen beginnt, muss ich fünfzig
     Prozent der Heilkraft aller Medizinen abziehen. Wenn Sie sie aber dazu bringen, dass sie nur eine Frage nach der neuen Wintermode
     der Mantelärmel stellt, dann verspreche ich Ihnen eine Fünfzig-zu-eins-Chance und nicht wie jetzt eine Wahrscheinlichkeit
     von zehn zu eins.›
    Nachdem der Doktor gegangen war, stürzte Sue in den Arbeitsraum und heulte eine ganze japanische Papierserviette zu einem
     feuchten Brei. Dann stolzierte sie mit ihrem Zeichenbrett in Johnsys Zimmer und pfiff einen Ragtime.
    Johnsy machte kaum die leiseste Bewegung unter der Bettdecke und hatte das Gesicht dem Fenster zugewandt. Sue hörte mit dem
     Pfeifen auf, da sie meinte, ihre Freundin schliefe. Sie rückte das Zeichenbrett zurück und begann eine Federzeichnung, die
     als Illustration für eine Magazingeschichte gedacht war. Junge Künstler müssen sich zur Kunst über Magazingeschichten durchschlagen,
     die junge Schriftsteller schreiben, um sich so ihren Weg zur Literatur zu bahnen.
    Als Sue gerade für den Helden, einen Cowboy aus Idaho, elegante |188| Reithosen und ein Monokel entwarf, hörte sie ein schwaches Geräusch, das mehrere Male wiederholt wurde. Schnell ging sie zum
     Bett. Johnsys Augen waren weit geöffnet. Sie blickte aus dem Fenster und zählte rückwärts. ‹Zwölf›, sagte sie und etwas später
     ‹elf›; und dann ‹zehn› und ‹neun›; und dann ‹acht› und ‹sieben› fast gleichzeitig.
    Besorgt schaute Sue aus dem Fenster. Was gab es da zu zählen? Man sah nur einen nackten, langweiligen Hinterhof und in einer
     Entfernung von sechs Metern die kahle Ziegelmauer des Nachbarhauses. Eine uralte Weinranke mit knorrigen und verwelkten Wurzeln
     wuchs bis zur Hälfte der Wand empor. Der kalte Atem des Herbstes hatte die Blätter abgezaust, und die jetzt beinahe nackten
     Zweige klammerten sich an die verwitterten Ziegel.
    ‹Was hast du, Liebling?›, fragte Sue. ‹Sechs›, flüsterte Johnsy fast unhörbar. ‹Jetzt fallen sie rascher. Vor drei Tagen waren
     es fast noch hundert. Vor lauter Zählen habe ich Kopfschmerzen bekommen. Aber jetzt ist es einfach. Da, wieder ein Blatt.
     Jetzt bleiben nur noch fünf.›
    ‹Fünf was, Liebling? Sag’s deiner Sudie.› – ‹Blätter. An der Weinranke. Wenn das letzte abfällt, dann muss auch ich gehen.
     Das weiß ich seit drei Tagen. Hat dir der Arzt denn nichts erzählt?› – ‹Oh, ich habe noch niemals so einen Blödsinn gehört›,
     widersprach Sue mit großartig gespieltem Zorn. ‹Was haben alte Weinblätter mit deiner Genesung zu tun? Und du hast diesen
     Wein immer so gern gehabt, du schlechtes Mädchen. Sei keine dumme Gans. Der Doktor hat mir heute Morgen gesagt, dass deine
     Chancen, bald wieder gesund zu werden – lass mich überlegen, was er genau gesagt hat   –, ja, er sagte, die Chancen wären eins zu zehn. Das ist dieselbe Chance, wie wir sie in New York haben, wenn wir mit der
     Straßenbahn fahren oder an einem Neubau vorübergehen. Versuch, etwas von der Bouillon zu trinken, und lass Sudie ihre Zeichnung
     fertig machen, damit sie sie dem Redakteur verkaufen und dem kranken Kind Portwein |189| und ihrem eigenen gefräßigen Magen Schweinefleisch mitbringen kann.›
    ‹Du brauchst keinen Wein mehr zu besorgen›, sagte Johnsy, und ihre Augen starrten aus dem Fenster. «Da fällt wieder eins.
     Nein, ich möchte keine Bouillon. Nur noch vier Blätter. Ich möchte noch sehen, wie das letzte

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