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Denken Sie nicht an einen blauen Elefanten!

Titel: Denken Sie nicht an einen blauen Elefanten! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Havener
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nächsten Morgen nach einer Stunde Schlaf aufwachte, sah sie, wie Johnsy mit trüben, weit aufgerissenen Augen auf
     den zugezogenen grünen Rollladen starrte.
    ‹Zieh auf; ich will sehen›, befahl sie flüsternd. Angstvoll gehorchte Sue   … Aber da! Trotz des peitschenden Regens und der heftigen Windstöße während einer endlos scheinenden Nacht hob sich gegen
     die Ziegelmauer ein einzelnes Weinblatt ab. Es war das letzte an der Weinranke. Am Stängel war es noch immer grün, aber an
     den gezackten Rändern sah man schon das Gelb der Auflösung und Zerstörung, und es hing tapfer weiter sechs Meter über dem
     Boden an einem Zweig.
    ‹Es ist das letzte›, sagte Johnsy. ‹Ich glaubte bestimmt, dass es während der Nacht herunterfallen würde. Ich habe den Wind
     gehört. Heute wird es abfallen, und in demselben Augenblick werde ich sterben.›
    ‹Liebling!›, sagte Sue und beugte sich gespannt über das Kissen. ‹Denk doch an mich, wenn du schon nicht an dich denken willst.
     Was soll ich ohne dich tun?›
    Aber Johnsy gab keine Antwort. Das Einsamste auf der Welt ist eine Seele, die sich auf die geheimnisvolle weite Reise vorbereitet.
     Die Einbildung beherrschte sie immer stärker, während |192| eine Bindung nach der anderen an Freunde und an die Welt sich löste.
    Der Tag ging vorüber, und noch im Zwielicht konnten sie gegen die Mauer das einzelne Blatt sehen, das sich an die Ranke klammerte.
     Mit der Nacht kam auch der Nordwind wieder, und der Regen schlug immer noch gegen die Fenster und plätscherte aus der flachen
     Dachrinne.
    Als es hell genug war, verlangte Johnsy unbarmherzig, dass der Rollladen wieder hochgezogen würde.
    Das Weinblatt war immer noch da.
    Johnsy schaute es lange Zeit schweigend an. Dann rief sie nach Sue, die ihre Hühnerbrühe auf dem Gasofen umrührte. ‹Ich bin
     ein dummes Mädchen gewesen›, sagte Johnsy. ‹Irgendetwas hat dieses Blatt dort festgehalten, um mir zu zeigen, wie schlecht
     ich war. Es ist eine Sünde, sterben zu wollen. Du kannst mir jetzt etwas Brühe bringen und Milch mit etwas Portwein – nein,
     bring mir zuerst einen Handspiegel und pack einige Kissen hinter meinen Rücken, damit ich dir beim Kochen zuschauen kann.›
    Eine Stunde später sagte sie: ‹Sudie, ich hoffe, eines Tages doch noch die Bucht von Neapel malen zu können.›
    Am Nachmittag kam der Arzt, und Sue fand einen Vorwand, um mit ihm allein auf dem Korridor sprechen zu können. ‹Es steht eins
     zu eins›, sagte der Arzt und ergriff Sues dünne, zitternde Hand. ‹Mit guter Pflege werden Sie gewinnen. Doch jetzt muss ich
     noch nach einem Patienten einen Stock tiefer schauen. Behrman ist sein Name – ich glaube, irgend so ein Künstler. Auch Lungenentzündung.
     Er ist ein alter, schwacher Mann, und der Anfall ist akut. Für ihn besteht keine Hoffnung; aber er wird heute ins Krankenhaus
     gebracht, um es bequemer zu haben.›
    Am nächsten Tag sagte der Doktor zu Sue: ‹Sie ist außer Gefahr; Sie haben gewonnen. Gute Ernährung und Pflege – das ist alles.›
    |193| An diesem Nachmittag setzte sich Sue an das Bett zu Johnsy, die zufrieden an einem sehr blauen und sehr nutzlosen Schal strickte,
     und umarmte sie mitsamt den Kissen.
    ‹Ich muss dir etwas sagen, meine blasse Maus›, sagte sie. ‹Mr.   Behrman ist heute im Krankenhaus an einer Lungenentzündung gestorben. Er war nur zwei Tage krank. Der Hausmeister hat ihn
     am ersten Tage in seinem Zimmer hilflos vor Schmerzen vorgefunden. Seine Schuhe und Kleider waren völlig durchnässt und eiskalt.
     Sie konnten sich nicht vorstellen, wo er in einer solch schrecklichen Nacht gewesen sein konnte. Dann fanden sie eine Laterne,
     die noch brannte, eine Leiter, die er benützt hatte, einige herumliegende Pinsel, eine Palette, auf der grüne und gelbe Farben
     gemischt waren und – Liebling, schau aus dem Fenster auf das letzte Weinblatt an der Mauer. Hast du dich nicht gewundert,
     dass es nie flatterte oder sich im Wind bewegte? Oh, Liebling, das ist Behrmans Meisterwerk – er hat es in jener Nacht gemalt,
     als das letzte Blatt abfiel.›»
    Vom richtigen Denken
    Mittlerweile hat der Begriff «positives Denken» bei vielen Menschen einen negativen Beigeschmack. Das liegt meines Erachtens
     daran, dass diese Formel überstrapaziert wurde. Etliche Vertreter der Trainings- und Selbsthilfeindustrie behaupten, so könne
     man einfach und schnell sein Seelenheil sicher erreichen. Egal, ob jemand reich werden will oder

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