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Denken Sie nicht an einen blauen Elefanten!

Titel: Denken Sie nicht an einen blauen Elefanten! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Havener
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Blatt wegweht, bevor es dunkel
     wird. Dann gehe ich.›
    ‹Johnsy, mein Liebling›, sagte Sue und beugte sich über sie, ‹versprichst du mir, deine Augen zu schließen und nicht mehr
     aus dem Fenster zu schauen, bis ich mit meiner Arbeit fertig bin? Ich muss diese Zeichnung morgen abliefern. Ich brauche Licht,
     sonst würde ich den Rollladen herunterlassen.›
    ‹Könntest du nicht im anderen Zimmer zeichnen?›, fragte Johnsy kühl. ‹Ich bleibe lieber bei dir›, sagte Sue. ‹Außerdem will
     ich nicht, dass du weiter diese blöden Weinblätter anstarrst.› – ‹Sag’s mir, sobald du fertig bist›, sagte Johnsy, schloss
     ihre Augen und lag weiß und still wie eine umgestürzte Statue, ‹weil ich das letzte Blatt fallen sehen will. Ich bin des Wartens
     müde. Ich will nicht mehr denken. Ich möchte jede Bindung lösen und wegflattern, einfach hinunter, wie eins dieser armen,
     müden Blätter.› – ‹Versuch doch zu schlafen›, sagte Sue. ‹Ich muss noch zu dem alten Behrman gehen, um ihn zu bitten, mir
     für den alten, einsamen Bergarbeiter Modell zu sitzen. Ich bleib nur einen ganz kurzen Augenblick. Versuch, dich nicht zu
     bewegen, bis ich wiederkomme.›
    Der alte Behrman war ein Maler, der ein Stockwerk unter ihnen wohnte. Er war über sechzig, hatte einen Kopf wie ein Satyr
     und einen Bart wie der Moses von Michelangelo, der in Locken über einen knabenhaften Körper wuchs. Behrman war ein gescheiterter
     Künstler. Seit vierzig Jahren hatte er den Pinsel geführt, aber es war ihm nie gelungen, auch nur den Rocksaum seiner Herrin,
     der Kunst, zu berühren. Er war immer drauf und dran, ein Meisterwerk zu malen, aber bis jetzt hatte er noch nicht einmal damit
     angefangen. Viele Jahre hindurch hatte er |190| nichts weiter gemalt als ab und zu ein Plakat für Anzeige- oder Reklamezwecke. Er verdiente sich etwas mit Modellstehen für
     die jungen Künstler in der Kolonie, die ein Berufsmodell nicht bezahlen konnten. Er trank unmäßige Mengen Gin und sprach noch
     immer von seinem Meisterwerk. Sonst war er ein bärbeißiger, alter Mann, der jedes Zartgefühl im Menschen schrecklich verspottete
     und sich für einen besonderen Kettenhund hielt, der die beiden Künstlerinnen im Atelier über ihm bewachte.
    Sue fand den stark nach Wacholderbeeren duftenden Behrman in seiner schwach beleuchteten Bude. In einer Ecke stand eine leere
     Leinwand auf einer Staffelei und wartete seit fünfundzwanzig Jahren darauf, den ersten Strich für das Meisterwerk zu empfangen.
     Sue erzählte ihm von Johnsys merkwürdiger Idee und dass sie fürchtete, Johnsy würde, ebenso zerbrechlich und leicht wie ein
     Blatt, wegwehen, wenn ihr Wille, auf dieser Welt zu leben, noch schwächer werden sollte.
    Behrman, dessen rote Augen offen tränten, gab schreiend seiner Verachtung und seinem Hohn über solche idiotische Einbildung
     Ausdruck.
    ‹Was!›, schrie er. ‹Gibt es denn noch Leute auf dieser Welt, die so dumm sind zu sterben, bloß weil Blätter von einem verfluchten
     Wein abfallen? So etwas habe ich noch nicht gehört. Nein, ich werde nicht für Ihren blödsinnigen, einsamen Dummkopf Modell
     sitzen. Wie können Sie nur zulassen, dass sich so eine hirnverbrannte Albernheit bei ihr festsetzt? Ach, diese arme kleine
     Miss Johnsy.›
    ‹Sie ist sehr krank und schwach›, sagte Sue, ‹und das Fieber hat ihren Verstand geschwächt und lauter merkwürdige Vorstellungen
     hervorgerufen. Nun gut, Mr.   Behrman, wenn Sie kein Interesse haben, mir Modell zu sitzen, dann lassen Sie es bleiben. Aber ich glaube, Sie sind ein schrecklicher
     alter Schwätzer.›
    ‹Und Sie sind eben wie alle Frauen›, schrie Behrman. ‹Wer |191| hat gesagt, dass ich nicht Modell sitzen will? Los! Ich komme mit. Seit einer Stunde versuche ich Ihnen zu erklären, dass
     ich bereit bin, Modell zu sitzen. Gott! Miss Johnsy ist viel zu schade, um an so einem Ort krank zu liegen. Eines Tages werde
     ich ein Meisterwerk malen, und dann werden wir hier alle wegziehen. Ach Gott, ja.› Johnsy schlief, als sie heraufkamen. Sue
     zog den Fensterladen ganz zu und winkte Behrman, ihr in das andere Zimmer zu folgen. Von hier aus blickten sie ängstlich auf
     die Weinranke. Dann sahen sie sich einen Augenblick schweigend an. Draußen fiel ein kalter Dauerregen, mit Schnee vermischt.
     Behrman in seinem alten, blauen Hemd setzte sich als einsamer Bergarbeiter auf einen umgestülpten Kessel, der einen Felsen
     darstellen sollte.
    Als Sue am

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